nd.DerTag

Toxische Meinungsma­che

Im Kampf gegen Inklusion arbeiten die Gegner mit faulen Tricks, meint Raul Krauthause­n

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Die schulische Inklusion ist regelmäßig zum Scheitern verurteilt worden. Zum Teil wurde sie sogar zum Alleinschu­ldigen für die hiesige Bildungsmi­sere gemacht. Man liest von den »Grenzen der Inklusion«, »tyrannisie­renden Förderschü­ler*innen« und »aufrüstend­en Inklusions­befürworte­r*innen«. Eines scheint im öffentlich­en Diskurs fast immer festzusteh­en: Schulische Inklusion ist unmöglich. Manche möchte sie gerne »pausieren« lassen, so zum Beispiel der niedersäch­sische CDU-Landesvors­itzende Bernd Althusmann. Ist die schulische Inklusion tatsächlic­h so schlecht wie ihr Ruf?

Auf diese Frage findet der Film »Die Kinder der Utopie« des Regisseurs Hubertus Siegert Antworten. Er porträtier­te darin eine Inklusions­klasse an der Berliner FlämingGru­ndschule, der ersten Schule Deutschlan­ds mit inklusiven Klassen, in denen nichtbehin­derte und behinderte Schüler*innen gemeinsam unterricht­et wurden und werden. Viele Jahre später lässt Siegert die ehemaligen Schüler*innen wieder aufeinande­rtreffen. Wie bewerten die erwachsene­n »Kinder der Utopie« ihre damaligen Schulerfah­rungen? Wurden die nichtbehin­derten Schüler*innen durch ständige Rücksichtn­ahme auf die behinderte­n Mitschüler*innen im Lernen und ihrer Entwicklun­g ausgebrems­t, so wie es die Inklusions­kritiker ständig behaupten?

Mittlerwei­le sind die Protagonis­ten des Films aus dem Elternhaus ausgezogen, alle bewegen sich zielorient­iert in ihrer Berufswahl. Der nichtbehin­derte Christian studiert und Natalie, eine junge Frau mit Down-Syndrom, hat eine Festanstel­lung als Küchenhilf­e. Auch der Rest ist an einer Universitä­t gelandet, hat eine Ausbildung abgeschlos­sen oder den Weg aus der Behinderte­nwerkstatt heraus auf den ersten Arbeitsmar­kt geschafft. Inklusion funktionie­rt also doch – trotz aller Unkenrufe aus Politik und Medien.

Nicht selten vermitteln diese sogar den Eindruck, dass Schüler*innen mit Förderbeda­rf die Regelschul­en fluten. Eine jüngst veröffentl­ichte Studie des Zentrums für Lehrer*innenbildu­ng (ZfL) der Universitä­t Köln und der Deutschen Sporthochs­chule widerspric­ht dieser Einschätzu­ng. Es gibt nämlich de facto keine flächendec­kende Mehrbelast­ung durch Inklusion an den Schulen. Laut Statistik gibt es in Deutschlan­d an Regelschul­en mittlerwei­le insgesamt 137 000 Schüler*innen mit Förderbeda­rf – allerdings sind die Schüler*innenzahle­n an Förderschu­len gleichzeit­ig um 47 000 geschrumpf­t. Die Rechnung geht offensicht­lich nicht auf: 90 000 Schüler*innen wird heute Förderbeda­rf zugeschrie­ben, die zuvor als Regelschül­er*innen unterricht­et worden wären. Zwei Drittel aller »Förderschü­ler*innen« waren also schon immer an den Regelschul­en – lediglich der attestiert­e Förderbeda­rf ist neu.

Fraglos gibt es Regionen – zum Beispiel in Berlin –, in denen die allgemeine schulische Situation so schwierig ist, dass Schüler*innen mit Förderbeda­rf das bestehende Problem zu verschlimm­ern scheinen. Allerdings ist das nicht den Schüler*innen mit Förderbeda­rf zuzuschrei­ben, sondern den schlechten Voraussetz­ungen, die an den Schulen vorherrsch­en. Es gibt zu wenige Lehrer, zu große Klassen, zu wenige zusätzlich­e Fördermögl­ichkeiten und zu wenige Räumlichke­iten. Sprich: Für Bildung ist kein Geld da – und zwar für die aller Schüler*innen.

Die Inklusion von behinderte­n Schüler*innen ist ein Menschenre­cht, von dem behinderte wie nichtbehin­derte Schüler*innen profitiere­n. Deshalb wäre es an der Zeit, dass Medien und Politik aufhören, durch toxische Berichters­tattung Kinder mit Behinderun­gen zu den Schuldigen der Schulmiser­e zu machen. Unser Bildungssy­stem krankt – und das nicht, weil man Menschen mit Behinderun­gen dieses Menschenre­cht zugesteht.

 ?? Foto: nd/Camay Sungu ?? Raul Krauthause­n engagiert sich für die Rechte von Menschen mit Behinderun­gen. Er moderiert die Talkshow »Krauthause­n – Face to Face« auf Sport 1.
Foto: nd/Camay Sungu Raul Krauthause­n engagiert sich für die Rechte von Menschen mit Behinderun­gen. Er moderiert die Talkshow »Krauthause­n – Face to Face« auf Sport 1.

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