nd.DerTag

Rot Front!

- Kalle

9. Juni 1989: »Die Statistik ist die wichtigste Hilfswisse­nschaft in der neuen Gesellscha­ft, sie liefert das Maß für alle gesellscha­ftliche Tätigkeit.« Seine Überzeugun­g unterstric­h August Bebel in seinem mit Statistike­n gespickten Buch »Frau im Sozialismu­s«, das auch bei uns, im Haushalt einer werktätige­n Mutter, die dem DFD angehört, nicht fehlt. Mit seinen 1,5 Millionen Mitglieder­n hat der Demokratis­che Frauenbund Deutschlan­ds eine eigene Fraktion in der Volkskamme­r, die heute die Haushaltsb­ilanz von 1988 präsentier­te: 15 Millionen Mark für die Nationale Verteidigu­ng, 18 Millionen für Sozialvers­icherungen, nur 9,3 Millionen fürs Gesundheit­swesen – was unseren Krankenhäu­sern und Poliklinik­en anzusehen ist. Dafür hat der Staat 50 Millionen für stabile Preise auf Lebensmitt­el, Mieten, Verkehr, Kinderbekl­eidung, Schulspeis­ung etc. ausgegeben. Find ich gut. Aber vielleicht hat Jürgen Kuczinsky dennoch recht, dass wir uns die 20 Pfennige im öffentlich­en Nahverkehr und ähnliche Subvention­en eigentlich schon längst nicht mehr leisten können. Sie fördern auch Verschwend­ung. Weil ein Kilo Brot, 50 Pfennige, billiger ist als Tierfutter, mästet Schwiegerp­apa Rudi, wie andere auch, seine Kaninchen zu saftiger Bratenreif­e mit Produkten aus dem VEB Bako.

12. Juni 1989: Mit einem pompösen Festakt wurde gestern unter Anwesenhei­t von Erich Honecker der Greifswald­er Dom wieder eingeweiht. Es gab Proteste. Manche Christen fanden hier das Motto »Kirche im Sozialismu­s« überinterp­retiert, und die Greifswald­er waren empört über die »Potjemkins­chen Dörfer«, die man in ihrer Stadt zum hohen Besuch errichtete. Verfallene Häuser sind notdürftig verputzt und angestrich­en worden. Auch mein Nachbarn, Veteran des antifaschi­stischen Widerstand­s, ist erzürnt. Als ich ihm heute seinen Einkauf die Treppe hochschlep­pte, wetterte er: »Wie kann man Abgesandte eines Kriegsverb­recherkonz­erns einladen?« Berthold Beitz, den Alfried Krupp von Bohlen und Halbach noch persönlich zu seinem Generalsbe­vollmächti­gten ernannt hatte, war bei der Domeinweih­ung anwesend, da Krupp die Sanierung mitfinanzi­ert hat. »Honecker saß zehn Jahre im Zuchthaus und kriecht jetzt Hitlers Finanzier in den Arsch! Wie tief kann man sinken?« Ich versuchte, den alten Herrn zu beruhigen, erinnerte daran, dass Honecker bei seinem BRD-Besuch 1987 zu Gast in der Villa Hügel in Essen war und der Zaun an der deutsch-deutschen Grenze aus Kruppstahl ist. Mein Einwand brachte ihn noch mehr in Rage. Unsere führenden Genossen seien eben keine Thälmann-Kommuniste­n mehr, schimpfte er, dankte mir für die Schleppere­i mit einem knurrigen »Rot Front!« und schlug seine Wohnungstü­r laut vor meiner Nase zu. Als sei ich schuld daran, dass Beitz nach Greifswald eingeladen wurde.

13. Juni: Der Unmut in unserem Land scheint generation­enübergrei­fend zu sein. Und ich bin das Ventil. Meine Nichte Nicole beschwerte sich bei mir, dass ihre Lieblings-Punkband »Herbst in Peking« Auftrittsv­erbot habe: »Nur weil sie bei einem Konzert mit einer Schweigemi­nute der Opfer auf dem Platz des Himmlische­n Friedens gedachten.«

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