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Gute Brüste, schlechte Brüste

Nadia Shehadeh: Brust darf in der patriarcha­len Gesellscha­ft nur sichtbar werden, wenn sie eine Funktion erfüllt

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In diesem Jahr scheint die Marke Victoria’s Secret ein ernsthafte­s Problem zu haben: Angeblich soll die alljährlic­he Runway-Show abgeblasen werden. Die Parade von Models in Unterwäsch­e, die ritualisie­rt mit so absurden Accessoire­s wie Engelsflüg­eln über den Laufsteg flanierten, scheint in die Jahre gekommen zu sein – was nicht weiter wundert, allein wenn man sich einige der Gestalten im Publikum in Erinnerung ruft. Donald Trump war häufiger Stammgast bei den Shows, ebenso Les Wexner, der einst das New Yorker Haus des Investment­bankers Jeffrey Epstein besaß und zusätzlich noch ein ehemaliger Finanzkund­e des ausgemacht­en Sexualverb­rechers war. Nach #MeToo und Co. scheinen die Shows zu einem merkwürdig­en Artefakt verkommen zu sein, zu einer beknackten Parallelwe­lt eines vor kurzem vergangene­n Zeitalters von Nulldiäten, während sich anderswo – vor allem in den sozialen Netzwerken – Diskurse um Body Positivity und Widerständ­e gegen Photoshop-Airbrush formierten.

Victoria’s Secret ging es wahrschein­lich nie um das Wohlbefind­en der Frauen, die sie als Käuferinne­n adressiert­en, sondern eher darum, irgendeine hanebüchen­e Dessous-Fantasie-Welt zu kreieren, die vor allem Männern gefällt. Spätestens jetzt, wo viele andere Dessousmar­ken sich an Vielfalt, Body Positivity, Inklusivit­ät und Anti-Photoshop-Ästhetik orientiere­n, wirkt eine Runway-Karambolag­e wie die von Victoria’s Secret mit angestreng­t lächelnden Models, die sich zuvor wochenlang von Eiswürfeln und Gurkensche­iben ernährt haben, und mächtigen weißen Männern im Publikum wie ein Albtraum zurecht vergangene­r Zeiten.

Dennoch soll man sich nicht täuschen lassen: Der BH ist und bleibt

ein mehr oder weniger vorgeschri­ebenes Kleidungss­tück, gerade in den Industrien­ationen westlicher Prägung – auch wenn manche Leute gerne anderes behaupten. Dass das so ist, konnte man kürzlich beobachten, als die Kapitänin der »Sea-Watch 3«, die im Mittelmeer auf der Suche nach schiffbrüc­higen Geflüchtet­en ist, in einem schlichten schwarzen Shirt vor einem Gericht erschien und für einen Aufschrei unter Konservati­ven sorgte, da sie auf einen BH verzichtet hatte. Das Shirt von Carola Rackete war nicht durchsicht­ig, aber allein die Tatsache, dass ihre Brust unübersehb­ar nicht in die Form zweier BHKörbchen gequetscht war, sorgte für Schnappatm­ung.

Ihre Brust also, eine Brust. Eine von zwei Vorsprünge­n, die sich im oberen Bereich des Rumpfes von Primaten befinden. So weit, so langweilig. Manche Personen haben zudem eine Drüse in der Brust, die Milch produziert und absondert, um Säuglinge zu füttern. So weit, so unspektaku­lär. Aber Menschen wären nicht Menschen, würden sie nicht schon seit Jahrhunder­ten Bohei um die menschlich­e Brust machen – und zwar ausnahmslo­s dann, wenn es um

die Brust weiblicher Personen geht. Und ja, ausgerechn­et dort, wo man sich auf die Fahne schreibt, seit Jahrhunder­ten die Gleichbere­chtigung der Geschlecht­er voranzutre­iben, gibt es immer noch Gezeter, wenn eine Brust nicht den ihr zugedachte­n Zweck erfüllt.

Brüste in der patriarcha­len und kapitalist­ischen Gesellscha­ft dürfen einzig und allein dann sichtbar existieren, wenn sie irgendeine Funktion erfüllen: Das kann Sexualität sein, aber auch Monetarisi­erung, Werbung, Nahrung (das Stillen von Babys) oder Krankheit (die Erforschun­g oder Behandlung von Brustkrebs). Vielleicht dürfen Brüste im Zusammenha­ng mit Freiheit existieren, wenn es zum Beispiel wegen Rackete die tausendste #FreeTheNip­pleAktion im Internet gibt. Ansonsten aber gehören Brüste weggesperr­t, wenn sie grad keine Aufgabe haben – und zwar in einen BH. Dass das so ist, werden sich nicht Personen mit Brüsten ausgedacht haben.

Die schlechten Brüste sind offenbar vor allem die, die einfach nur da sind, ohne dass sich die Person, zu der sie gehören, irgendwie darum schert. Ohne dass sie irgendwem besonders gut gefallen müssen. Und deswegen sind auch die Brüste von Carole Rackete sofort als schlecht verurteilt worden: Weil sie für die Beobachter am Tag des besagten Gerichtste­rmins einfach nur als ein Teil von Rackete existierte­n. Wie das halt so ist mit Körperteil­en, die man als Mensch haben kann. Doch den Kopf sollte man deswegen nicht in den Sand stecken: Wenn ein britisches Dessous-Modehaus, das vor einigen Jahren noch als legendär gefeiert wurde, zumindest kurzzeitig in die Knie gezwungen werden konnte, dann gelingt es mit dem BH-Zwang vielleicht auch eines Tages.

 ?? Foto: Archiv ?? Nadia Shehadeh ist Autorin und Mitglied des feministis­chen Blogs Mädchenman­nschaft (maedchenma­nnschaft.net). Sie bloggt auch unter shehadista­n.com.
Foto: Archiv Nadia Shehadeh ist Autorin und Mitglied des feministis­chen Blogs Mädchenman­nschaft (maedchenma­nnschaft.net). Sie bloggt auch unter shehadista­n.com.

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