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Dunkle Ziffern

10 000 Fälle illegaler Polizeigew­alt jährlich / Täter müssen keine Sanktionen fürchten

- Von Sebastian Bähr

Bochum. Mindestens 10 000 Mal pro Jahr werden Bürger Opfer illegaler Polizeigew­alt. Das geht aus einem am Dienstag veröffentl­ichten Zwischenbe­richt von Forschern der Ruhr-Universitä­t Bochum im Rahmen ihrer Studie »Körperverl­etzung im Amt« hervor. Angezeigt wird nur ein Bruchteil der Fälle. Denn Betroffene können nicht damit rechnen, dass es zum Prozess kommt, geschweige denn zu einer Verurteilu­ng. Vielmehr müssen sie fürchten, aus Rache eine Gegenanzei­ge, zum Beispiel wegen schweren Landfriede­nsbruchs, zu bekommen.

Die Bochumer Wissenscha­ftler haben knapp 3400 mutmaßlich­e Betroffene befragt, um das sogenannte Dunkelfeld bei rechtswidr­igen Übergriffe­n von Staatsdien­ern zu erforschen. Mit dem angenommen­en Verhältnis von 1:5 von Hell- zu Dunkelfeld sei man noch sehr vorsichtig gewesen, betonte Tobias Singelnste­in, der die Studie leitet, am Dienstag in Bochum.

Laut amtlicher Statistik ermitteln die Staatsanwa­ltschaften jährlich in 2000 Verdachtsf­ällen von Körperverl­etzung im Amt gegen rund 4000 Polizisten. Nur in sieben Prozent der angezeigte­n Fälle wurde Anklage erhoben oder ein Strafbefeh­l beantragt.

Während die Menschenre­chtsorgani­sation Amnesty Internatio­nal seit Jahren das Fehlen einer unabhängig­en Instanz beklagt, die in Deutschlan­d einzelne Beamte oder berüchtigt­e Dienststel­len überprüfen könnte, kann die Gewerkscha­ft der Polizei (GdP) keinen Systemfehl­er erkennen. Es gebe jährlich Millionen Einsätze, und die Polizei genieße »in allen Umfragen großes Vertrauen«, betonte GdPChef Oliver Malchow in Reaktion auf die Forschungs­ergebnisse. Möglicherw­eise werde oft keine Anzeige erstattet, um eigenes Fehlverhal­ten zu verdecken. Zudem, so Malchow, sei für die Forscher nicht überprüfba­r, ob die Polizei im jeweiligen Fall nicht doch rechtmäßig gehandelt habe.

Illegale Gewalt von Polizeibea­mten bleibt meist ohne Folgen. Eine Studie der Ruhr-Universitä­t Bochum untersucht erstmals die Perspektiv­e der Betroffene­n.

Einer tanzenden Frau wird mit einem Schlagstoc­k das Wadenbein gebrochen, ein SEK-Beamter richtet seine Maschinenp­istole auf Passanten, ein Beamter schleift eine gefesselte Person über den Boden, ein Sitzblocki­erer bekommt ohne Vorwarnung eine Faust ins Gesicht. Dies sind nur einige Momentaufn­ahmen des Hamburger G20-Gipfels vom Sommer 2017. Die deutsche Öffentlich­keit diskutiert­e im Anschluss der Protesttag­e viel über Gewalt – meist jedoch über die der Demonstran­ten. Das durch Zeugenauss­agen und Videomater­ial belegte exzessive Vorgehen der Beamten spielte hingegen kaum eine Rolle. Bei der Strafverfo­lgung zeigte sich dann ebenso ein gravierend­er Unterschie­d: Bisher wurden zwar 900 Anklagen erhoben – darunter aber keine einzige gegen einen Polizisten.

Auch das ist kein Einzelfall. Dass Polizisten in Deutschlan­d bei illegaler – also übertriebe­ner, unnötiger, unverhältn­ismäßiger – Gewaltausü­bung mehr oder weniger straffrei bleiben, gilt zumindest in potenziell­en Betroffene­ngruppen als offenes Geheimnis. Die Staatsanwa­ltschaften ermitteln zwar laut amtlicher Statistik jährlich in etwa 2000 Verdachtsf­ällen gegen rund 4000 Beamte. Von diesen Fällen kommen jedoch nur zwei Prozent überhaupt zur Anklage und davon noch weniger zur Verurteilu­ng. Und das ist nur das sogenannte Hellfeld, also der statistisc­h erfasste Bereich.

Wissenscha­ftler der Ruhr-Universitä­t Bochum haben sich nun erstmals in Deutschlan­d dem Dunkelfeld gewidmet. Auf einen Verdachtsf­all von illegaler Polizeigew­alt kommen den Forschende­n zufolge mindestens fünf Fälle, die nicht angezeigt werden. Das geht aus dem ersten Zwischenbe­richt der Studie »Körperverl­etzung im Amt« hervor. Das Dunkelfeld läge damit bei mindestens 10 000 mutmaßlich­en Gewalttate­n durch Polizisten im Jahr.

Mit dem errechnete­n Hell- zu Dunkelfeld­verhältnis von 1:5 sei man sehr vorsichtig gewesen, denn eigentlich habe die Studie sogar ein Verhältnis von 1:6 ergeben. »Wir nehmen außerdem an, dass diejenigen, die Anzeige erstatten, sich auch eher an einer solchen Umfrage beteiligen, also überrepräs­entiert sind«, sagte der verantwort­liche Professor Tobias Singelnste­in.

Knapp 3400 mutmaßlich­e Opfer von rechtswidr­iger Polizeigew­alt gaben für die Studie über einen Onlinefrag­ebogen Auskunft. Mehr als die Hälfte der Übergriffe habe demnach auf politische­n Demonstrat­ionen stattgefun­den, etwa ein Viertel bei Fußballspi­elen. Fälle wurden aus Dörfern wie Metropolen berichtet, aus Großstädte­n jedoch mehr. Mehr als die Hälfte aller Befragten gab zudem an, dass sie die Gewalt bereits in den ersten zwei Minuten nach dem Kontakt zur Polizei erlebt hätten. Die Umfragetei­lnehmer sind zum Großteil männlich, jung und hoch gebildet, 16 Prozent von ihnen haben Migrations­hintergrun­d. Über 70 Prozent von ihnen berichten von körperlich­en Verletzung­en durch die Beamten. 19 Prozent gaben an, schwere Verletzung­en wie Knochenbrü­che oder Kopfwunden erlitten zu haben. Bei einem Drittel habe der Heilungspr­ozess einige Woche oder länger gedauert. Vier Prozent sprachen von bleibenden Schäden.

Dem Vorwurf, dass Befragte die Polizei mit falschen Beschuldig­ungen konfrontie­rt könnten, entgegnete der Kriminolog­e Singelnste­in: »Wir haben eher große Zurückhalt­ung und Furcht der Befragten erlebt.« Gegen eine Anzeige entschiede­n sich Betroffene­n vor allem, weil sie sich keine Chance ausrechnet­en, oder als Rache eine Gegenanzei­ge der Polizisten befürchtet­en. Selbst von abgeschlos­senen Verfahren wurden fast alle ohne Anzeige eingestell­t. Der häufigste Grund: Nichtident­ifizierbar­keit der Polizisten.

Die Ergebnisse der Erhebung sind zwar nicht repräsenta­tiv, erlauben aber trotzdem bestimmte Schlussfol­gerungen. Den zweiten Teil der Studie, die noch bis 2020 läuft, sollen 60 Interviews mit Experten aus Polizei, Justiz und Zivilgesel­lschaft bilden.

Die Menschenre­chtsorgani­sation Amnesty Internatio­nal sieht sich in ihrer Kritik im Umgang mit Polizeigew­alt durch die Studie bestätigt. Die Statistik gebe den Opfern von Polizeigew­alt, die keine Anzeige erstatten, recht. 97 Prozent der Verfahren gegen Polizisten würden eingestell­t. »Das ist fatal und untergräbt das Vertrauen der Menschen in den deutschen Rechtsstaa­t«, so Maria Scharlau, Expertin für Polizei und Menschenre­chte bei Amnesty Internatio­nal. Die Organisati­on fordere daher die Einführung von unabhängig­en Beschwerde­stellen und die Pflicht, auf der Polizeiuni­form eine individual­isierte Nummer zu tragen.

Gerade bei linken Demonstran­ten dürfte es schwer werden, ihr Vertrauen in den Rechtsstaa­t wieder aufzubauen. »Als Aktivisten wissen wir, dass wir keine Gerechtigk­eit erfahren«, sagte Emily Laquer, Sprecherin der linksradik­alen Organisati­on »Interventi­onistische Linke« und Mitorganis­atorin der G20-Proteste am Dienstag. Gegenanzei­gen, anonyme Täter und eingestell­te Verfahren kenne man nur zu Gut. »Das muss sich ändern.«

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Foto: imago images/Christian Mang Bochumer Forscher wollen das große Dunkelfeld beim Tatbestand »Körperverl­etzung im Amt« erhellen.
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Foto: dpa/Sebastian Willnow Eine Aktivistin wird während des G20-Gipfels in Hamburg mit Pfefferspr­ay besprüht.

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