Entgrenzt schuften
Homeoffice ist für Unternehmen vorteilhaft, für Beschäftigte gesundheitlich riskant
Die allgegenwärtige Digitalisierung ermöglicht es einem Teil der Beschäftigten, zu Haus zu arbeiten. Das bringt nicht nur Vorteile.
Digitalisierung bedroht nicht nur Arbeitsplätze und ganze Berufsgruppen in ihrer Existenz, sie verändert auch Bedingungen und Inhalte der Erwerbsarbeit. Das hat auch Auswirkungen auf die Gesundheit. Diese werden im aktuellen Fehlzeiten-Report des AOK-Bundesverbandes und des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) untersucht. Vorgestellt wurde der knapp 800 Seiten starke Band am Dienstag in Berlin.
Von der Digitalisierung der Arbeitswelt wird in Deutschland viel gesprochen, in den Unternehmen selbst ist sie erst teilweise angekommen. Eine Untersuchung des Branchenverbandes Bitkom von 2018 fand heraus, dass sich eine überraschend großer Anteil der Firmen als »digitaler Nachzügler« einordnet. Das betrifft 60 Prozent der Unternehmen mit 20 bis 99 Beschäftigten, 53 Prozent der Firmen mit mit 100 bis 499 Beschäftigten und immer noch 48 Prozent der Arbeitgeber, die zwischen 500 und 1999 Beschäftigten haben. Nachzügler zu sein umfasst vermutlich auch das Eingeständnis, das die Prozesse zur Digitalisierung eher ungeordnet verlaufen.
Ob organisiert oder nicht, die Digitalisierung dürfte für einen großen Teil der psychischen Belastungen am Arbeitsplatz verantwortlich sein. Diese nehmen tatsächlich zu, sie umfassen Arbeitsverdichtung und -intensivierung, Zeitdruck und Multitasking. Hinzu kommen laut Antje Ducki von der Beuth-Hochschule für Technik Berlin Informationsüberflutung und ständige Unterbrechungen durch die mobile Nutzung von Kommunikationsmedien, außerdem sogenannte Entgrenzungsprobleme. Letztere umfassen alles, was mit der Auflösung der Grenzen zwischen Erwerbsarbeit und dem restlichen Leben zu tun hat, also etwa die Erreichbarkeit nach Feierabend oder im Urlaub, oder eben auch die Arbeit im Homeoffice.
Das Arbeiten von zu Hause bildete dann auch einen der Schwerpunkte des Fehlzeiten-Reports. In einer allgemein repräsentativen Befragung von Beschäftigten, unabhängig von ihrer Krankenkasse, fanden die Forscher heraus, dass 40 Prozent auch außerhalb des Unternehmens tätig waren. 6,7 Prozent der Arbeitsstunden dieser Gruppe wurden zu Hause absolviert. Mehr als zwei Drittel der davon Betroffenen schätzten ein, dass sie dort mehr Arbeit bewältigen können, drei Viertel sagten, dass sie am heimischen Schreibtisch konzentrierter seien.
Besonders für die Vorgesetzten dürfte interessant sein, dass die Homeoffice-Mitarbeiter häufig die Arbeit auf den Abend oder das Wochenende legen – und zwar auch dann, wenn sie sich eigentlich krank fühlen. Wegen dieser Flexibilität in der Arbeitseinteilung haben sie am Ende auch geringere Fehlzeiten (im Schnitt 7,7 Tage) als Beschäftigte im Betrieb (11,9 Tage). »Das ist aber nicht gesund, weder für die Beschäftigten, noch für die Firma oder die Krankenkasse«, warnt Helmut Schröder vom WidO, Mitherausgeber des Reports. »Erholungsphasen am Abend oder am Wochenende sind nötig, durch die Entgrenzung fallen sie weg.«
Hinzu kommt, dass die Tele-Arbeiter sich häufiger in ihrem seelischen Wohlbefinden beeinträchtigt fühlen. Drei Viertel von ihnen berichten über Erschöpfung, von den nur im Betrieb Arbeitenden hingegen nur 66 Prozent, jeweils innerhalb der letzten vier Wochen zum Zeitpunkt der Befragung. Etwa ähnlich hoch ist der Unterschied in Fragen von Wut und Verärgerung, Nervosität und Reizbarkeit zwischen beiden Gruppen. Auch von Selbstzweifeln und Schlafstörungen berichten zu Hause Tätige häufiger. Absehbar sind die Auswirkungen, die das auch auf die Gesundheit der Familien hat. Für die Arbeitspsychologin und Report-Autorin Ducki sind das genug Gründe für die Forderung, auch die Arbeit im Homeoffice vernünftig und im Interesse der Mitarbeitergesundheit zu organisieren.
Im Fehlzeiten-Report wurden über das Schwerpunktthema hinaus auch wieder Daten zur Arbeitsunfähigkeit analysiert, und zwar nach Krankheiten, Regionen und Branchen. Sie beruhen auf den Krankschreibungen von fast 14 Millionen AOK-versicherten Arbeitnehmern. Der Krankenstand in der genannten Gruppe steig 2018 im Vergleich zum Vorjahr um 0,2 auf 5,5 Prozent an. Jeder Beschäftigte war damit im Durchschnitt 19,9 Tage wegen einer Krankschreibung nicht am Arbeitsplatz. Zu den weiter steigenden Fehlzeiten hatte 2018 erneut eine Erkältungswelle geführt.