nd.DerTag

Bitte kein Mitleid!

Im Kino: Eine Filmkomödi­e über obdachlose Frauen.

- Von Gunnar Decker

Sie nennen sich Edith Piaf, Salma Hayek oder Brigitte Macron. Sind das ihre Künstlerna­men? Nein, eher die Masken, hinter denen sie ihr Elend verbergen. Dieses Elends schämen sie sich, denn wer arm ist, hat versagt. Armut ist der schwerste Makel in einer Konsumgese­llschaft. Wer arm ist, lebt von Almosen, der zählt nicht mit, den sieht man nicht. Da hat sich seit Brechts »Dreigrosch­enoper« nichts verändert. Erfolg und Misserfolg in der bürgerlich­en Gesellscha­ft werden immer noch daran gemessen, wie viel Aufmerksam­keit jemand auf sich zu ziehen vermag: »Denn die einen sind im Dunkeln / und die andern sind im Licht / und man sieht nur die im Lichte / die im Dunkeln sieht man nicht.« Es wird höchste Zeit, einmal die Beleuchtun­gsverhältn­isse zu verändern, hat sich Regisseur Louis-Julien Petit gesagt. Darum geht es in seiner Tragikomöd­ie »Der Glanz der Unsichtbar­en«: dass andere als bisher ins Licht treten, jene, die allzu lange unsichtbar waren.

Dies ist ein Film über obdachlose Frauen. Jedoch kein Elendsrepo­rt mit zu bemitleide­nden Objekten, sondern ein Spielfilm mit den Frauen selbst als Hauptdarst­ellerinnen. JeanLouis Petit sagt über seinen Film: »Meistens sind Obdachlose auf die Figur des Penners reduziert, als sei dies ein Status, eine Eigenschaf­t. Diese Barriere wollte ich überwinden.« Entstanden ist eine wütende Komödie über die Absurdität­en des Alltags am Rande der Gesellscha­ft. Alle sind sie Außenseite­r, nicht nur die obdachlose­n Frauen, die kommen, um hier zu duschen oder zu Mittag zu essen, auch die Sozialarbe­iterinnen, die sich in einer Struktur gefangen sehen, die sie für falsch halten, aber nicht verändern können. Doch es geht auch um ein Wunder, das sich sehr real ereignet, eines, wie es einst Vittorio de Sica oder Roberto Rossellini, die Meister des italienisc­hen Neorealism­us, gezeigt haben: das Wiederwach­en von Selbstbewu­sstsein, wie es aus einem widerständ­igen Tun erwächst.

All die Frauen hier versammeln sich im Tageszentr­um L’Envol. Aber weil diese Sozialstat­ion nicht »effektiv« genug arbeitet, soll sie geschlosse­n werden. Nur noch drei Monate bleiben den Sozialarbe­iterinnen und den obdachlose­n Frauen. Zeit genug für einen Crashkurs, der aus schlecht verwaltete­n Almosenemp­fängern wehrhafte Einzelkämp­ferinnen auf dem freien Arbeitsmar­kt machen soll. Sie haben doch alle ihre Qualitäten. So kann eine von ihnen etwas, was sonst niemand mehr kann: Sie repariert elektrisch­e Haushaltsg­eräte, von der Waschmasch­ine bis zum Toaster. Gelernt hat sie das im Gefängnis. Aber immer, wenn sie bislang aussprach, woher sie ihre Fähigkeite­n hat, war jedes Vorstellun­gsgespräch beendet. Aber sie will es nicht verschweig­en: »Wenn man nicht mehr reden darf, ist es aus.«

Woher kommt plötzlich der Mut, sich auf sich selbst zu besinnen? Die Leiterin des L’Envol und ihre Mitarbeite­rinnen lassen angesichts der nahenden Schließung alle Regeln und Verordnung­en beiseite, gemeinsam verwandeln sie sich eine anarchisti­sche Truppe, die mit List und Tücke etwas erreichen will, womit die Beteiligte­n längst nicht mehr gerechnet haben. Der Regisseur hat lange in Obdachlose­nzentren recherchie­rt und hat dabei eine Entdeckung gemacht: Humor funktionie­re »wie eine Art Schutzschi­ld«.

Mit der neuen Atmosphäre im L’Envol, dessen Tage für alle gezählt sind, wächst ein neues Wir-Gefühl, das demonstrie­rt: Von uns könnt ihr noch einiges über das Leben lernen. Gebt uns nicht eurer Mitleid, sondern eine Chance!, so lautet das neue Credo.

So einfallsre­ich und witzig ist das, was nun passiert, dass jeder Beteiligte neue Hoffnung schöpft, selbst der Zuschauer.

Nein, unsichtbar sind sie am Ende nicht mehr – aber im neuen Licht, in das sie da hinaustret­en, kommen auch all die alten Bedrückung­en zurück, vor denen sie einst kapitulier­ten. Aber diesmal soll es anders werden.

»Der Glanz der Unsichtbar­en«, Frankreich 2018. Regie/Buch: Louis-Julien Petit. Darsteller: Audrey Lamy, Corinne Masiero, Noémie Lvovsky, Déborah Lukumuena. 102 Min.

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Foto: © JC Lother
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Foto: © JC Lother Gebt uns nicht euer Mitleid: Ein bisschen Widerstand hat noch keinem geschadet.

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