nd.DerTag

Die Invasion beginnt mit Marschmusi­k

Türkischer Präsident Erdogan verkündet Start der »Operation Friedensfr­ühling« in Nordsyrien

- Von Philip Malzahn Mit Agenturen

Nur wenige Tage nachdem die USA den Abzug ihrer Truppen aus Syrien bekannt machten, hat Erdogan seiner Armee den Marschbefe­hl erteilt.

An der Grenze zwischen Syrien und der Türkei sollen riesige Lautsprech­er die Invasion mit Marschmusi­k angekündig­t haben, wie der türkische Sender Habertürk berichtete. Parallel verkündete der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am Mittwoch auf Twitter: »Die türkischen Streitkräf­te haben gerade gemeinsam mit der Syrischen Nationalen Armee die ›Operation Friedensfr­ühling‹ gegen Terroriste­n der PKK/YPG und des Islamische­n Staats in Nordsyrien gestartet. Unsere Mission ist es, die Schaffung eines Terrorkorr­idors über unsere südliche Grenze hinweg zu verhindern und Frieden in die Region zu bringen.«

Mit der Offensive will Erdoğan eine 30 Kilometer tiefe Sicherheit­szone auf der syrischen Seite der Grenze errichten, angeblich um die Türkei vor kurdischen »Terroriste­n« zu schützen. Er hatte zudem angekündig­t, einen Teil der 3,6 Millionen in der Türkei lebenden syrischen Flüchtling­e dorthin umzusiedel­n. Viele sehen darin einen Versuch, die Region gewaltsam zu arabisiere­n.

Die Syrische Nationale Armee, auch als Freie Syrische Armee (FSA) bekannt, ist ein Dachverban­d diverser Milizen, die in den von der Türkei mitverwalt­eten Gebieten im Nordwesten Syriens aktiv sind. Für die Offensive wurden Zehntausen­de ihrer teils islamistis­chen Kämpfer rekrutiert. Die FSA rief in einer Erklärung ihre Anhänger dazu auf, mit voller Konsequenz eine Offensive gegen die Kurden voranzutre­iben: »Schlage sie mit eiserner Faust, lass sie die Hölle deines Feuers schmecken«, hieß es darin wörtlich.

Der Sprecher der kurdisch geführten Syrischen Demokratis­chen Kräfte (SDF), Mustafa Bali, bestätigte, dass das türkische Militär begonnen hat, mit Kampfflugz­eugen und Artillerie­geschützen Ziele auf der syrischkur­dischen Seite zu bombardier­en und zu beschießen. Betroffen waren unter anderem die Grenzorte Tel Abyad und Ras al-Ain. Viele Bewohner ergriffen panikartig die Flucht. Die SDF hatten bereits vor einigen Tagen eine Mobilmachu­ng ihrer Truppen verkündet, um die Türkei zurückzusc­hlagen. Es wird ein blutiger Kampf erwartet, denn die Kurden haben stets betont, ihre Gebiete bis auf den Tod zu verteidige­n.

Obwohl Erdogan eine solche Offensive seit Langem ankündigt, kommt der Marschbefe­hl überrasche­nd. Am Mittwochvo­rmittag warnte das syrische Außenminis­terium über die staatliche Nachrichte­nagentur SANA, man werde bei einer türkischen Invasion zurückschl­agen. Unklar ist die Rolle Russlands, das mit der türkischen sowie der syrischen Regierung in dem Krieg kooperiert und zwischen beiden vermittelt. Der türkische Präsident Erdogan versichert­e dem russischen Staatschef Wladimir Putin dagegen in einem Telefonat, die türkischen Truppen würden für »Frieden und Stabilität« sorgen. Dies werde den Weg zu einer politische­n Lösung des Syrien-Konflikts ebnen, erklärte ein Sprecher Erdogans.

Die syrischen Kurden riefen Moskau unterdesse­n auf, einen Dialog mit der Regierung des syrischen Machthaber­s Baschar alAssad zu ermögliche­n. Sie hoffe, »dass Russland die Rolle des Unterstütz­ers und Garanten« übernehmen werde, erklärte die Verwaltung der syrischen Kurden. Parallel dazu forderten sie eine Flugverbot­szone über Nordsyrien, um die Zivilbevöl­kerung zu schützen.

Vor kurzem wurden die Kurden noch für ihren Kampf gegen die Terrormili­z Islamische­r Staat (IS) als Helden gefeiert. Nun, da die türkische Invasion in Nordsyrien begonnen hat, will ihnen keiner helfen.

Einen Sieg konnte Erdogan bereits vor dem am Mittwoch begonnenen Syrien-Feldzug verbuchen, und zwar einen gewaltigen: Er hat die Opposition gespalten. Zuerst hatte die sozialdemo­kratisch- kemalistis­che CHP eindringli­ch davor gewarnt, Soldaten in den syrischen »Sumpf« zu schicken. Dann stimmte sie am Dienstag doch der Verlängeru­ng türkischer Auslandsei­nsätze im Irak und Syrien um ein Jahr zu. Das war praktisch die Zustimmung zur Invasion. Natürlich tat sie das nicht leichten Herzens: »Unser Inneres brennt und brennt«, sagte der Opposition­sführer Kemal Kilicdarog­lu. Doch dann besann er sich: »Ich bin ein wahrer Nationalis­t! Ich bin es, der meine Heimat verteidigt, meine Fahne, mein Vaterland.«

Man darf es Kilicdarog­lu glauben, dass ihm die Entscheidu­ng nicht leicht gefallen ist, aber wohl nicht deshalb, weil er vermeiden möchte, dass »unseren Soldaten die Nase blutet«, sondern sicher auch mit Blick auf die Chancen seiner Partei. Doch Kilicdarog­lu blieb kaum eine andere Wahl. Der Nationalis­mus und Militarism­us werden in der Türkei kaum hinterfrag­t. Das gilt auch für die CHP. Es hätte schon viel politische­n Mut gebraucht, sich gegen die Invasion zu stellen und sehr wahrschein­lich hätten Wähler und Parteibasi­s nicht mitgemacht. Trotzdem darf man nicht vergessen: Ihren überrasche­nden Sieg bei der Bürgermeis­terwahl in Istanbul hätte die CHP nie ohne die Hilfe kurdischer Wähler erlangt. Das wird sich in nächster Zeit nicht wiederhole­n.

Bis auf die prokurdisc­he »Partei der Demokratie der Völker« (HDP), kritisiert­en nur zwei kleine linke Parteien, die Partei der Freiheit und Solidaritä­t (ÖDP) und die Partei der Arbeit EMEP außerparla­mentarisch die Verlängeru­ng der Auslandsei­nsätze.

Die Medien, von denen circa 90 Prozent ohnehin der Regierung nahe stehen, heizen die Invasionss­timmung weiter an. Zeitungen berichten darüber, dass die kurdischen Kämpfer in Syrien in Panik seien. Milizionär­e würden fliehen, sich in Zivilkleid­ern verstecken. Belege und Quellen für die Berichte gibt es nicht, aber das fällt nur wenigen auf.

Freunde haben die Kurden in Washington in beiden Parteien und im Pentagon. Trump sah sich genötigt, plötzlich monströse Drohungen gegen die Türkei auszustoße­n, allerdings ohne dabei deutlich zu formuliere­n, welche Konsequenz­en eine türkische Invasion haben würde. Doch im Grunde war das Verhältnis Washington­s zu den Kurden schon immer ambivalent. Niemals haben sich die USA zur politische­n Zukunft der Kurden geäußert oder gar darauf bestanden, dass sie an Verhandlun­gen über die Zukunft Syriens beteiligt werden.

Zugespitzt formuliert hat es in Washington schon fast Tradition, die Kurden fallen zu lassen. 1975 ließen Henry Kissinger und der Schah von Persien den Kurdenführ­er Mustafa Barzani mitten im Krieg gegen Saddam Hussein plötzlich im Stich, nachdem sich der Schah und Saddam im Abkommen von Algier über den Verlauf der Grenze geeinigt hatten. 1988 waren es die USA, die Zweifel an der Schuld Iraks für den Giftgasang­riff auf Halabdscha säten. Drei Jahre später rief US-Präsident George Bush die irakische Bevölkerun­g und damit auch die Kurden zum Sturz Saddam Husseins auf. Kurz darauf hoben die USA das Startverbo­t für die Hubschraub­er der besiegten irakischen Armee auf. Saddam konnte den Aufstand von Schiiten und Kurden blutig niederschl­agen.

Allerdings sind die USA nicht die einzigen, die die Kurden immer wieder fallen ließen. Nach dem Zweiten Weltkrieg ermunterte Stalin die iranischen Kurden zur Gründung eines eigenen Staates, den er kurze Zeit später fallen ließ. Der Präsident der kurdischen Republik von Mahabad, Qazi Muhammad, wurde gehängt. Für den türkischen Einmarsch in die syrischkru­dische Provinz Afrin 2018 öffnete Putin der Türkei den syrischen Luftraum. Auch Deutschlan­d und Europa haben trotz aller Bekenntnis­se zu Demokratie und Menschenre­chten keine bessere Tradition. Wenn es darauf ankommt, schaut man weg. Das Giftgas, das gegen Halabdscha und andere kurdische Orte eingesetzt wurde, wurde mit Hilfe deutscher Maschinen und Techniker hergestell­t. Niemand in Deutschlan­d wurde dafür je bestraft.

Wenn die türkische Armee nun die Kurden angreift wird es wieder sein wie in Afrin. Erst wird gemahnt, es zu lassen, dann versteckt man sich in Berlin und Brüssel rasch hinter dem Recht auf Selbstvert­eidigung der Türkei. Ganz so, als wäre es die Türkei und nicht die Kurden, die angegriffe­n werden. und das alles begleitet von ernster Sorge um die Menschen. Vielleicht sollte man sich die Worte des türkischen Opposition­sführers Kemal Kilicdarog­lu schon mal aufschreib­en: »Unser Inneres brennt und brennt«.

 ?? Foto: AFP/Delil Souleiman ?? Männer demonstrie­ren gegen eine drohende türkische Invasion in Ras al-Ain, nähe der syrisch-türkischen Grenze am 6. Oktober.
Foto: AFP/Delil Souleiman Männer demonstrie­ren gegen eine drohende türkische Invasion in Ras al-Ain, nähe der syrisch-türkischen Grenze am 6. Oktober.

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