Stadt als Tier
Die
bekannte tschechische Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Daniela Hodrová wurde 1946 in Prag geboren und hat oft über diese Stadt geschieben. »Ich sehe die Stadt…« heißt dann auch ihr neues Buch auf deutsch, das allerdings schon 1991 »fiktiv-realer Spaziergang durch Prag« auf tschechisch veröffentlicht wurde, als die Tschechoslowakei noch gab.
Im Nachwort schreibt ihr deutscher Übersetzer Eduard Schreiber, dass Hodrová eine Autorin sei, die ihre Kindheit in dieser Stadt als einem »endlosen Mythos« verbracht habe und nun nicht mehr davon loskomme. Und so erscheint Prag ihr als »magisch, un
»Prag« war für sie als Kind nicht nur ein Name, sondern ein reales Wesen.
heimlich, golden, imaginär, Labyrinth, ist Mütterchen, kafkaesk, surreal, ist Geliebte, Verführerin und Frau«. Schon als Kind war das Wort »Prag« für sie mehr als nur ein Name, sie glaubte, es wäre ein reales Wesen, ein Raubtier, das mit Krallen und einem schauerlichen Atem unweit ihrer Wohnung überall auf sie lauerte.
Bereits in den Sagen über markante Figuren und die Stadtgeschichte, die ihr in der Kindheit erzählt worden waren, war Prag Hölle und Paradies zugleich. Diese Erinnerungen führen die Schriftstellerin, die über die »samtene Revolution« eine Romantrilogie verfasste, zu ebenso ganz konkret beschriebenen wie fantastisch ausgeschmückten Wanderungen durch die Stadt. Hodrová entwickelt neue Sagen über schon vorhandene Sagen. Ein flirrender Schwebezustand, der über die Prophezeiungen der mystischen Libuše weit hinausgeht..
Derart erfährt man Variationen über die Entstehung des Wenzelsplatzes, bei denen es um die Ermordung des Heiligen Wenzel geht und um die Historie seiner ersten Krone, die über Jahrhunderte hinweg diverse Repräsentanten zierte, oft aber auch versteckt werden musste, um sie vor Missbrauch zu schützen. In dieses »Heilige-Wenzel-Spiel« ist Hodrová intensiv involviert, mehrfach versucht sie, sich dieser legendären Figur zu nähern, bei ihrem »Abstieg in die Vergangenheit«, in aller poetischen Originalität.
Über Bezugspunkte zu anderen Schriftstellern (K. H. Mácha, J. Hašek, F. Kafka, G. Meyrink, K. Čapek, V. Havel, V. Linhartová, L. Moníková u. v. a.) werden wichtige Orte und Zeichen der Stadt Prag wie der Altstädter Ring, der Sankt-Veits-Dom, die Karlsbrücke, das Goldene Gässchen, die Prager Burg, dazu bekannte Kirchen und Museen besucht, wobei Kindheitserlebnisse und Träume stets mit realen Kontakten vermischt werden, so dass für den Leser der Eindruck entsteht, man befinde sich in einem Theater, aber nicht im Zuschauerraum, sondern inmitten der Akteure auf der Bühne. Als sei man direkt in eine Wallfahrt einbezogen, als kämpfe man sich durch den mysteriösen Untergrund in den Katakomben, als fliege man mit einem Ballon über die Gassen, als sähe und spüre man das Ansteigen des Pegels der Moldau, die Prag überflutet – Böhmen am Meer eben.
Am Ende des Buches, das vor fast 30 Jahren erschien, warnt die Autorin vor den unzähligen angeschwemmten »Wahrsagern«, was die Frage provoziere, ob die samtene Revolution nur ein Spiel gewesen sei? Der Epilog des Textes beginnt mit: »Stadt der Trauer. Stadt der Puppen. Du Ungeheuer!«.
Daniela Hodrová: Ich sehe die Stadt…Aus d. Tsch. v. Eduard Schreiber, Arco-Verlag, 136 S., brosch., 16 €.