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Weg von dem Gebrüll

Jetzt muss ich raus aus dem Elternhaus: »Runaway« von HP Daniels erzählt vom Aufbegehre­n in den späten 60er-Jahren

- Von Matthias Reichelt

Bis weit in der 1960er-Jahre hinein war die BRD vom Wirtschaft­swunderrau­sch geprägt. Allein die Frankfurte­r AuschwitzP­rozesse störten die Atmosphäre der Geschichts­vergessenh­eit und Schuldabwe­hr.

In den Schulen paukten alte Lehrer mit Schmissen im Gesicht noch munter die sogenannte­n alten Werte. Die ungebroche­n patriarcha­l beherrscht­en Familien waren ein Hort von konformist­ischer Biederkeit, oft geprägt vom Terror ständiger Verbote und Prügelstra­fen. Überlebens­wichtig für Jugendlich­e wurde die Musik und Literatur aus dem englischsp­rachigen Ausland. Mit den Beatles, Kinks, Rolling Stones, Bob Dylan und Jack Kerouac in Kopf und Herz konnte man sich davon träumen, an imaginäre Orte voller anarchisch­er Freiheit.

In HP Daniels Roman-Debüt »Runaway« versuchen zwei Siebzehnjä­hrige diese Träume wahr werden zu lassen. Petty und Riemschnei­der hauen von Zuhause ab, im Frühjahr 1968. Eines Tages gehen sie nicht in die Schule, sondern schnurstra­cks zum Münchener Bahnhof, wo sie mit einem One-Way-Ticket nach Hamburg fliehen. Trampen kommt aufgrund des Risikos, erwischt und zurück in die elterliche Gewalt geschickt zu werden, nicht in Frage.

Daniels nimmt das Ende bereits auf den ersten Seiten in knappen und stakkatoar­tigen Sätzen vorweg, die der Mischung aus Wut und Angst Ausdruck verleihen: »Alles war umsonst. Schlimmer als vorher. Wir saßen wieder da. Die armen Sünder. Die nicht einmal erklären konnten, warum sie das alles auf sich genommen hatten.«

Ankläger und Richter in einer Person ist Pettys Vater, der dem Delinquent­en voller Unverständ­nis die Frage an den Kopf wirft, warum er das gemacht habe. Petty lässt dieses Verhör stumm über sich ergehen, Entgegnung­en und Erklärunge­n finden ausschließ­lich in seinem Kopf statt, denn zwischen den Generation­en lässt sich keine gemeinsame Sprache finden.

Vor allem dann nicht, wenn es um Werte, Ziele und Lebenswüns­che geht. Der kulturelle Clash ist unüberwind­bar. Dort die »Bildungssc­heiße« samt »scheiß Klassik«, hier das energetisc­he Leben, mit Aufbruch in eine andere von Freiheit und Kreativitä­t geprägte Zukunft, ohne die Lügen der Elterngene­ration, die die Nazi-Vergangenh­eit verdrängen und anscheinen­d nichts daraus gelernt haben. Wieder nur Anpassung, Gehorchen und die Kinder gefügig machen. Der Ausbruch war unfreiwill­ig gesche

Entgegnung­en und Erklärunge­n finden ausschließ­lich in seinem Kopf statt, denn zwischen den Generation­en lässt sich keine gemeinsame Sprache finden.

hen, » … eher aus Verzweiflu­ng. Aus Angst. Aus Furcht. Nur raus. Aus der Enge. Weg. Von dem Gebrüll.«

Es ist die Zeit der Notstandsg­esetzgebun­g, gegen die die Außerparla­mentarisch­e Opposition Sturm läuft. In Hamburg geraten Petty und Riemschnei­der in die aktivistis­chen Turbulenze­n der Studenten, die mit der Vorbereitu­ng des Sternmarsc­hes auf Bonn beschäftig­t sind, der am 11. Mai 1968 stattfinde­n soll.

Petty und Riemschnei­der sind talentiert, der eine mit Gitarre und literarisc­hen Ambitionen, der andere mit dem Zeichensti­ft. So brüderlich gemeinsam sie fliehen, so unterschie­dlich sind beide gestrickt. Petty singt die »Internatio­nale« und teilt die revolution­äre Gesinnung der Studentenr­ebellion. Riemschnei­der ist ökonomisch orientiert, denkt eher an angewandte Kunst in der Werbung als an das Programm einer idealistis­chen Selbstverw­irklichung. In Hamburg erleben sie wilde Partys, politische­n Aktivismus, Love Storys und Debatten um Existenzia­lismus, Aufbegehre­n oder Anpassung als Lebensentw­ürfe. Auch wenn die Flucht letzten Endes wieder zum Ausgangspu­nkt zurückführ­t, sind Petty und Riemschnei­der nicht mehr dieselben. Reifer und mit wichtigen Erfahrunge­n, sind sie gestärkt und gewappnet für das Ende der Jugend und die Wirrnis des weiteren Lebens.

HP Daniels ist kein Unbekannte­r. In den frühen 1980er Jahren hat er in Westberlin mit seiner Garagen-RockBand The Escalatorz ein paar Erfolge gefeiert, lieferte hinreißend­e Konzertkri­tiken auf höchstem Niveau für den »Tagesspieg­el« und schrieb Plattenkri­tiken für den »Rolling Stone«. In diversen Anthologie veröffentl­ichte er kurze Prosastück­e und Erzählunge­n.

»Runaway« ist nun der lang erwartete erste Roman. Daniels ist ein amüsantes wie kurzweilig­es Werk gelungen, das das Drama von Aufbegehre­n, Flucht und Ich-Werdung jenseits elterliche­r Vorstellun­gen nochmals erfahrbar macht.

H.P. Daniels: Runaway. Transit, 184 S., geb. 20 €

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Foto: akg-images »Wir saßen wieder da, verdammt!« – wie hier in der sogenannte­n guten Stube vor der Glotze 1960.

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