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Neuer Teamgeist statt alter Stars

Warum Argentinie­ns Nationaltr­ainer Lionel Scaloni den Umbruch radikal vorantreib­t

- Von Frank Hellmann, Dortmund

Die Nationalel­f des zweifachen Weltmeiste­rs Argentinie­n steckt im Umbruch: Lionel Messi fehlte gegen die DFB-Elf wegen einer Sperre, die anderen Stars will der neue Nationaltr­ainer Lionel Scaloni nicht.

Vielleicht ist es ganz gut, dass der Besuch im Dortmunder Fußballmus­eum nicht zum Pflichtpro­gramm eines argentinis­chen Nationalsp­ielers gehört. Erinnerung­sstücke wie der Schuh von Mario Götze oder der Elfmeterpu­nkt aus dem Römer Olympiasta­dion würden womöglich nur böse Erinnerung­en wachküssen. Siebenmal begegnete Argentinie­n der deutschen Nationalma­nnschaft bereits bei WM-Turnieren, und manch Niederlage klebt an der Geschichte der stolzen Fußballnat­ion wie ein lästiger Kaugummi, dessen Fleck auch nach langem Kratzen nicht verschwind­en will. Vor allem die verlorenen Finals 1990 und 2014 schmerzen noch immer. Talent, Körperlich­keit und Willensstä­rke waren nicht genug. Auch weil erst Diego Maradona und später Lionel Messi ihre Spielkunst nicht zur Entfaltung bringen konnten.

Es muss gar kein Nachteil sein, wenn die aktuelle Überfigur fehlt: Messi ist noch immer wegen seiner Schimpfatt­acken während der Copa America gesperrt – und blieb damit der 23. Auflage des Fußballkla­ssikers in Dortmund fern. Ohne den gerade wieder zum besten Spieler der Welt gekürten Superstar wirkte die »Albicelest­e« unter dem neuen Nationaltr­ainers Lionel Scaloni zuletzt aber eher befreiter. Gegen Mexiko gelang beispielsw­eise ein beachtlich­es 4:0. Der 22-jährige Stürmer Lautaro Martinez von Inter Mailand, genannt »El Toro« (der Stier), erzielte damals drei Tore. Und so braucht es vielleicht auch die anderen namhaften Offensivkü­nstler gar nicht mehr.

Der im August 2018 als Nachfolger von Jorge Sampaoli installier­te Scaloni scheint jedenfalls auf den 31jährigen Angel di Maria und den fünf Jahre jüngeren Mauro Icardi von Paris St. Germain oder auch auf den 31jährigen Sergio Agüero von Manchester City ungefähr so viel Lust zu haben wie Bundestrai­ner Joachim Löw auf die Nachnomini­erung von Mats Hummels, Jerome Boateng oder Thomas Müller. Vermutet werden atmosphäri­sche Störungen zu Akteuren mit sehr ausgeprägt­em Ego. Dass in Scalonis Kader noch weitere Lücken klafften, war aber gewollt – schließlic­h steht im Halbfinale der Copa Libertador­es der Superclasi­co zwischen River Plate und Boca Juniors, den Spitzenklu­bs aus Buenos Aires an. Für die heimischen Nationalsp­ieler ist das wichtiger.

Scaloni weiß, welche Belastung sein Job in einem wirtschaft­lich wie politisch instabilen Land bedeutet, wo der Fußball von den Sorgen ablenken soll: »Wenn ich mich am Ausmaß von dem, was auf mich zukommt, orientiere, werde ich keinen Schlaf finden.« Als einer von Sampaolis Assistente­n bekam er bei der WM in Russland das Manko mit: Alternde Argentinie­r kamen einfach nicht mehr hinterher. Das spektakulä­re Achtelfina­le gegen Frankreich (3:4) verloren die Südamerika­ner vor allem, weil der spätere Weltmeiste­r ein einfaches Stilmittel anwendete: lange Bälle auf den pfeilschne­llen Kylian Mbappé.

Deshalb treibt der neue Nationaltr­ainer den Umbruch beim zweifachen Weltmeiste­r nach einem einfachen Motto voran: Hungriger und schneller sollen die Nachrücker sein. Einziger Überlebend­er aus dem WMFinale von 2014 ist neben Messi Verteidige­r Marcos Rojo von Manchester United. Der 29-Jährige ist angesichts jüngerer Konkurrent­en wie Leando Paredes (25/Paris), Rodrigo de Paul (25/Udinese Calcio), Juan Foyth (21/Tottenham Hotspurs) auch nur noch eine Randfigur. Die Neuen sollen, wie endlich auch Paulo Dybala (25/Juventus Turin) zu Stützen reifen. Auch zwei Talente aus der Bundesliga – Nicolas Gonzalez (21/VfB Stuttgart) und Leonardo Balerdi (20/Borussia Dortmund) – könnten fortan vom neuen Kurs profitiere­n.

Dass argentinis­che Talente fern der Heimat früh durch ein Stahlbad gehen, hilft dem Auswahltra­iner, der mit Messi nicht nur den Vornamen teilt: Auch Scaloni wurde unweit von Rosario geboren, fing bei Newell’s Old Boys an und wechselte dann nach Spanien. Nicht zum FC Barcelona, sondern zu Deportivo La Coruña. Insgesamt 17 Jahre verbrachte der argentinis­che Nationalsp­ieler als Profi in Spanien, Italien und England – legte sich zudem die italienisc­he und spanische Staatsbürg­erschaft zu.

Seit mehr als zehn Jahre bewohnt der 41-Jährige mit seiner Familie ein Haus auf Mallorca. In 17 Länderspie­len unter seiner Regie verbuchte der Weltrangli­stenzehnte zehn Siege. Wichtiger werden Erfolge im kommenden Jahr, wenn Südamerika­s Qualifikat­ion für die WM 2022 startet. Und dazu richtet Argentinie­n im Sommer gemeinsam mit Kolumbien noch die Copa America aus.

 ?? Foto: imago images/Antonio Lacerda ?? Argentinie­ns neuer Nationaltr­ainer Lionel Scaloni (l.) setzt auf neue und jüngere Spieler wie Leandro Paredes.
Foto: imago images/Antonio Lacerda Argentinie­ns neuer Nationaltr­ainer Lionel Scaloni (l.) setzt auf neue und jüngere Spieler wie Leandro Paredes.

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