Neuer Teamgeist statt alter Stars
Warum Argentiniens Nationaltrainer Lionel Scaloni den Umbruch radikal vorantreibt
Die Nationalelf des zweifachen Weltmeisters Argentinien steckt im Umbruch: Lionel Messi fehlte gegen die DFB-Elf wegen einer Sperre, die anderen Stars will der neue Nationaltrainer Lionel Scaloni nicht.
Vielleicht ist es ganz gut, dass der Besuch im Dortmunder Fußballmuseum nicht zum Pflichtprogramm eines argentinischen Nationalspielers gehört. Erinnerungsstücke wie der Schuh von Mario Götze oder der Elfmeterpunkt aus dem Römer Olympiastadion würden womöglich nur böse Erinnerungen wachküssen. Siebenmal begegnete Argentinien der deutschen Nationalmannschaft bereits bei WM-Turnieren, und manch Niederlage klebt an der Geschichte der stolzen Fußballnation wie ein lästiger Kaugummi, dessen Fleck auch nach langem Kratzen nicht verschwinden will. Vor allem die verlorenen Finals 1990 und 2014 schmerzen noch immer. Talent, Körperlichkeit und Willensstärke waren nicht genug. Auch weil erst Diego Maradona und später Lionel Messi ihre Spielkunst nicht zur Entfaltung bringen konnten.
Es muss gar kein Nachteil sein, wenn die aktuelle Überfigur fehlt: Messi ist noch immer wegen seiner Schimpfattacken während der Copa America gesperrt – und blieb damit der 23. Auflage des Fußballklassikers in Dortmund fern. Ohne den gerade wieder zum besten Spieler der Welt gekürten Superstar wirkte die »Albiceleste« unter dem neuen Nationaltrainers Lionel Scaloni zuletzt aber eher befreiter. Gegen Mexiko gelang beispielsweise ein beachtliches 4:0. Der 22-jährige Stürmer Lautaro Martinez von Inter Mailand, genannt »El Toro« (der Stier), erzielte damals drei Tore. Und so braucht es vielleicht auch die anderen namhaften Offensivkünstler gar nicht mehr.
Der im August 2018 als Nachfolger von Jorge Sampaoli installierte Scaloni scheint jedenfalls auf den 31jährigen Angel di Maria und den fünf Jahre jüngeren Mauro Icardi von Paris St. Germain oder auch auf den 31jährigen Sergio Agüero von Manchester City ungefähr so viel Lust zu haben wie Bundestrainer Joachim Löw auf die Nachnominierung von Mats Hummels, Jerome Boateng oder Thomas Müller. Vermutet werden atmosphärische Störungen zu Akteuren mit sehr ausgeprägtem Ego. Dass in Scalonis Kader noch weitere Lücken klafften, war aber gewollt – schließlich steht im Halbfinale der Copa Libertadores der Superclasico zwischen River Plate und Boca Juniors, den Spitzenklubs aus Buenos Aires an. Für die heimischen Nationalspieler ist das wichtiger.
Scaloni weiß, welche Belastung sein Job in einem wirtschaftlich wie politisch instabilen Land bedeutet, wo der Fußball von den Sorgen ablenken soll: »Wenn ich mich am Ausmaß von dem, was auf mich zukommt, orientiere, werde ich keinen Schlaf finden.« Als einer von Sampaolis Assistenten bekam er bei der WM in Russland das Manko mit: Alternde Argentinier kamen einfach nicht mehr hinterher. Das spektakuläre Achtelfinale gegen Frankreich (3:4) verloren die Südamerikaner vor allem, weil der spätere Weltmeister ein einfaches Stilmittel anwendete: lange Bälle auf den pfeilschnellen Kylian Mbappé.
Deshalb treibt der neue Nationaltrainer den Umbruch beim zweifachen Weltmeister nach einem einfachen Motto voran: Hungriger und schneller sollen die Nachrücker sein. Einziger Überlebender aus dem WMFinale von 2014 ist neben Messi Verteidiger Marcos Rojo von Manchester United. Der 29-Jährige ist angesichts jüngerer Konkurrenten wie Leando Paredes (25/Paris), Rodrigo de Paul (25/Udinese Calcio), Juan Foyth (21/Tottenham Hotspurs) auch nur noch eine Randfigur. Die Neuen sollen, wie endlich auch Paulo Dybala (25/Juventus Turin) zu Stützen reifen. Auch zwei Talente aus der Bundesliga – Nicolas Gonzalez (21/VfB Stuttgart) und Leonardo Balerdi (20/Borussia Dortmund) – könnten fortan vom neuen Kurs profitieren.
Dass argentinische Talente fern der Heimat früh durch ein Stahlbad gehen, hilft dem Auswahltrainer, der mit Messi nicht nur den Vornamen teilt: Auch Scaloni wurde unweit von Rosario geboren, fing bei Newell’s Old Boys an und wechselte dann nach Spanien. Nicht zum FC Barcelona, sondern zu Deportivo La Coruña. Insgesamt 17 Jahre verbrachte der argentinische Nationalspieler als Profi in Spanien, Italien und England – legte sich zudem die italienische und spanische Staatsbürgerschaft zu.
Seit mehr als zehn Jahre bewohnt der 41-Jährige mit seiner Familie ein Haus auf Mallorca. In 17 Länderspielen unter seiner Regie verbuchte der Weltranglistenzehnte zehn Siege. Wichtiger werden Erfolge im kommenden Jahr, wenn Südamerikas Qualifikation für die WM 2022 startet. Und dazu richtet Argentinien im Sommer gemeinsam mit Kolumbien noch die Copa America aus.