Das große Warten in Exarchia
In Griechenland lief am Donnerstag ein Ultimatum der Regierung an Hausbesetzer ab
Seit den 1970er Jahren ist der Stadtteil Exarchia in Athen berühmt für seine alternativen Bewohner. Nach dem Willen der neuen Regierung sollen die nun weichen.
Der Wind reißt vertrocknete Oleanderblätter mit sich und lässt die Markisen klappern, unten auf den schmalen Gehsteigen in Exarchia eilen Passanten durch den Nieselregen, drängen Mopeds, Taxis und Pkw die schmalen Straßen entlang. Die Polizisten rund ums Polytechnikum haben sich unter die Arkaden verzogen, wo sich vor den geschlossenen und bunt besprayten Rollläden Sperrmüll stapelt, Matratzen Obdachloser ihren Platz finden oder aus Pappkartons gebaute Katzenhäuser. Wenig deutet auf den nahenden Kriegszustand hin, den viele Einwohner am Freitag befürchten, nachdem das Ultimatum in der Nacht zu Donnerstag ausgelaufen ist. Ein Plakat mit einem vermummten, Schwimmbrille und Gasmaske tragenden Kopf lädt zum Training am Abend des 4. Dezember ein, dabei soll gelernt werden, sich vor Tränengas zu schützen.
Am 20. November hatte die NeaDimokratia-Regierung das Ultimatum verkündet, bis zum Ablauf des 4. Dezember müssten alle besetzten Häuser freiwillig geräumt oder mit den Hausbesitzern Mietverträge abgeschlossen werden. Gehen oder Mietverträge aushandeln – das sei ein Treppenwitz, erzählt uns eine Aktivistin, da der Großteil der besetzten Häuser in staatlichem Besitz sei, und dieser kein Interesse habe, Mietverträge abzuschließen.
Exarchia ist ein Viertel mit vorwiegend einhundert Jahre alten, ehemals bürgerlichen Häusern im Zentrum Athens, weltweit als anarchistisches Epizentrum bekannt. In Exarchia hat sich nach der Militärdiktatur eine linke Struktur entwickelt. Im November 1974 besetzten Studenten das Polytechnikum, einen Teil der Universität, und wurden mit Militärgewalt
geräumt, es gab Dutzende Tote. Die nachfolgenden Proteste im ganzen Land stürzten die Militärjunta und selbstorganisierte Gruppen bezogen den Stadtteil.
»Wir im Viertel gehen davon aus, dass sie diesmal alles Räumen werden. Es gab 2008 schon mal eine Welle von Repressionen, wo geräumt wurde, die Leute haben sich gewehrt, Unterstützung kam auch von Ladenund Hotelbesitzern, es gab breite Unterstützung der Einwohner. Das ist jetzt nicht mehr so. Hier hat sich die Drogenmafia festgesetzt, normalerweise siehst du keinen Polizisten im Viertel«, sagt eine Gewerbetreibende.
Etwa fünfzehn Squads, also besetzte Häuser, gibt es noch in Exarchia. Am 7. Juli 2019 wurde die neue Regierung gewählt, innerhalb weniger Wochen ließ sie fünf besetzte Häuser räumen, viele von Migrantinnen bewohnt. Anschließend wurde das Universitätsasyl aufgehoben. Die neue Regierung verspricht Recht und Ordnung. Hatte es in der Vergangenheit immer wieder Bemühungen gegeben, die alternativen Strukturen zu verdrängen und Exarchia aufzuwerten, wird nun auf öffentlicher Ebene die Gefahr präsentiert, die vom Stadtbezirk ausgehe: Anarchisten, Terroristen und Ausländer.
»Die Räumung und die Angriffe auf linke und anarchistische Strukturen sind eine zweigleisige Strategie: Erstens will man alle kritischen Stimmen und die Opposition kriminalisieren sowie Strukturen, die nicht durch die Regierung kontrollierbar sind, zerstören. Zweitens will man den Weg frei machen für Investoren, um das Stadtzentrum umzugestalten«, so Maria Oshana, Leiterin des Verbindungsbüros Griechenland der Rosa Luxemburg Stiftung, welches sich in Exarchia befindet.
Vor dem 6. Dezember 2019, dem Jahrestag der Ermordung des 15-jährigen Alexis Grigoropoulos durch einen Polizisten in Exarchia, wuchs die Mobilisierung gegen massive Polizeigewalt und verbale Angriffe auf linke Strukturen. Zur Demo am 17. November, die dem Studierendenaufstand
am Polytechnikum 1974 gedachte, erschienen mit bis zu 30 000 Teilnehmerinnen deutlich mehr als in den letzten Jahren – auch in Reaktion auf die Abschaffung des Universitätsasyls.
»Das Ultimatum ist angesichts des Datums eine Provokation und eine unausgesprochene Drohung zugleich. Viele gehen davon aus, dass die Polizei jetzt die massive Eskalation sucht, um dann alle Häuser zu räumen, massenhaft Verhaftungen vorzunehmen und die gesamten oppositionellen und migrantischen Kräfte zu kriminalisieren«, sagt Maria Oshana.
Im Viertel wird spekuliert, dass die Demo am Abend des 6. Dezember von Polizeiseite angegriffen wird. »Straßenschlachten als Anlass, um Häuser zu räumen und viele Leute hops zu nehmen. Dass wird richtig knallen«, glaubt ein ansässiger Zigarettenhändler. Und wie die Zahnärztin, der Buchhändler und die Restaurantbesitzer wird er sein Lädchen am Freitag geschlossen halten.