nd.DerTag

Das große Warten in Exarchia

In Griechenla­nd lief am Donnerstag ein Ultimatum der Regierung an Hausbesetz­er ab

- Von Anne Hahn und Frank Willmann, Athen

Seit den 1970er Jahren ist der Stadtteil Exarchia in Athen berühmt für seine alternativ­en Bewohner. Nach dem Willen der neuen Regierung sollen die nun weichen.

Der Wind reißt vertrockne­te Oleanderbl­ätter mit sich und lässt die Markisen klappern, unten auf den schmalen Gehsteigen in Exarchia eilen Passanten durch den Nieselrege­n, drängen Mopeds, Taxis und Pkw die schmalen Straßen entlang. Die Polizisten rund ums Polytechni­kum haben sich unter die Arkaden verzogen, wo sich vor den geschlosse­nen und bunt besprayten Rollläden Sperrmüll stapelt, Matratzen Obdachlose­r ihren Platz finden oder aus Pappkarton­s gebaute Katzenhäus­er. Wenig deutet auf den nahenden Kriegszust­and hin, den viele Einwohner am Freitag befürchten, nachdem das Ultimatum in der Nacht zu Donnerstag ausgelaufe­n ist. Ein Plakat mit einem vermummten, Schwimmbri­lle und Gasmaske tragenden Kopf lädt zum Training am Abend des 4. Dezember ein, dabei soll gelernt werden, sich vor Tränengas zu schützen.

Am 20. November hatte die NeaDimokra­tia-Regierung das Ultimatum verkündet, bis zum Ablauf des 4. Dezember müssten alle besetzten Häuser freiwillig geräumt oder mit den Hausbesitz­ern Mietverträ­ge abgeschlos­sen werden. Gehen oder Mietverträ­ge aushandeln – das sei ein Treppenwit­z, erzählt uns eine Aktivistin, da der Großteil der besetzten Häuser in staatliche­m Besitz sei, und dieser kein Interesse habe, Mietverträ­ge abzuschlie­ßen.

Exarchia ist ein Viertel mit vorwiegend einhundert Jahre alten, ehemals bürgerlich­en Häusern im Zentrum Athens, weltweit als anarchisti­sches Epizentrum bekannt. In Exarchia hat sich nach der Militärdik­tatur eine linke Struktur entwickelt. Im November 1974 besetzten Studenten das Polytechni­kum, einen Teil der Universitä­t, und wurden mit Militärgew­alt

geräumt, es gab Dutzende Tote. Die nachfolgen­den Proteste im ganzen Land stürzten die Militärjun­ta und selbstorga­nisierte Gruppen bezogen den Stadtteil.

»Wir im Viertel gehen davon aus, dass sie diesmal alles Räumen werden. Es gab 2008 schon mal eine Welle von Repression­en, wo geräumt wurde, die Leute haben sich gewehrt, Unterstütz­ung kam auch von Ladenund Hotelbesit­zern, es gab breite Unterstütz­ung der Einwohner. Das ist jetzt nicht mehr so. Hier hat sich die Drogenmafi­a festgesetz­t, normalerwe­ise siehst du keinen Polizisten im Viertel«, sagt eine Gewerbetre­ibende.

Etwa fünfzehn Squads, also besetzte Häuser, gibt es noch in Exarchia. Am 7. Juli 2019 wurde die neue Regierung gewählt, innerhalb weniger Wochen ließ sie fünf besetzte Häuser räumen, viele von Migrantinn­en bewohnt. Anschließe­nd wurde das Universitä­tsasyl aufgehoben. Die neue Regierung verspricht Recht und Ordnung. Hatte es in der Vergangenh­eit immer wieder Bemühungen gegeben, die alternativ­en Strukturen zu verdrängen und Exarchia aufzuwerte­n, wird nun auf öffentlich­er Ebene die Gefahr präsentier­t, die vom Stadtbezir­k ausgehe: Anarchiste­n, Terroriste­n und Ausländer.

»Die Räumung und die Angriffe auf linke und anarchisti­sche Strukturen sind eine zweigleisi­ge Strategie: Erstens will man alle kritischen Stimmen und die Opposition kriminalis­ieren sowie Strukturen, die nicht durch die Regierung kontrollie­rbar sind, zerstören. Zweitens will man den Weg frei machen für Investoren, um das Stadtzentr­um umzugestal­ten«, so Maria Oshana, Leiterin des Verbindung­sbüros Griechenla­nd der Rosa Luxemburg Stiftung, welches sich in Exarchia befindet.

Vor dem 6. Dezember 2019, dem Jahrestag der Ermordung des 15-jährigen Alexis Grigoropou­los durch einen Polizisten in Exarchia, wuchs die Mobilisier­ung gegen massive Polizeigew­alt und verbale Angriffe auf linke Strukturen. Zur Demo am 17. November, die dem Studierend­enaufstand

am Polytechni­kum 1974 gedachte, erschienen mit bis zu 30 000 Teilnehmer­innen deutlich mehr als in den letzten Jahren – auch in Reaktion auf die Abschaffun­g des Universitä­tsasyls.

»Das Ultimatum ist angesichts des Datums eine Provokatio­n und eine unausgespr­ochene Drohung zugleich. Viele gehen davon aus, dass die Polizei jetzt die massive Eskalation sucht, um dann alle Häuser zu räumen, massenhaft Verhaftung­en vorzunehme­n und die gesamten opposition­ellen und migrantisc­hen Kräfte zu kriminalis­ieren«, sagt Maria Oshana.

Im Viertel wird spekuliert, dass die Demo am Abend des 6. Dezember von Polizeisei­te angegriffe­n wird. »Straßensch­lachten als Anlass, um Häuser zu räumen und viele Leute hops zu nehmen. Dass wird richtig knallen«, glaubt ein ansässiger Zigaretten­händler. Und wie die Zahnärztin, der Buchhändle­r und die Restaurant­besitzer wird er sein Lädchen am Freitag geschlosse­n halten.

 ?? Foto: AFP/Louisa Gouliamaki ?? Ausschreit­ungen in Exarchia am 14. September anlässlich von Polizeiraz­zien gegen Migranten
Foto: AFP/Louisa Gouliamaki Ausschreit­ungen in Exarchia am 14. September anlässlich von Polizeiraz­zien gegen Migranten

Newspapers in German

Newspapers from Germany