Das Seepferdchen-Abzeichen für Leben und Liebe
Warum ist Gertraud Klemms Roman »Hippocampus« nicht auf den Bestenlisten des Jahres?
Literatur über Literatur, Romane über das Romaneschreiben, das ist für gewöhnlich die Domäne nicht mehr junger Großschriftsteller, die den eigenen Geniekult pflegen – wild ist der Westen, schwer ist der Beruf! Insofern handelt sich bei »Hippocampus« (lat. für Seepferdchen) von Gertraud Klemm vielleicht auch um eine feministische Aneignung.
Zum Glück fällt dieser Roman nicht in die Falle der Selbstbezüglichkeit, sondern nutzt den Literaturbetrieb mit seinen Ritualen um Long- und Shortlists, Preisen, Stipendien und nicht zuletzt seiner Erinnerungskultur als Bühne für etwas Größeres, nämlich eine Betrachtung von Frauen in einer spezifischen Berufswelt und ihren Möglichkeiten und Kämpfen darin.
Dass überhaupt das Schreiben hier als Beruf gezeichnet wird, hebt den Roman aus der Masse thematisch ähnlich gelagerter Werke heraus. Darüber hinaus findet der Roman aber auch einen eigenständigen Zugang zum Modethema Feminismus – was nicht abwertend gemeint sein soll, im Gegenteil. Zeit wird’s, dass Feminismus uns so lange auf die Nerven geht, bis er sich, hoffentlich irgendwann überflüssig gemacht hat.
Sagen wir also lieber, der Roman findet einen eigenständigen Zugang zu einem, zurzeit viel erzählten Thema, indem er ältere Frauen zu Protagonistinnen macht, deren Feminismus weniger von identitätspolitischen Fragen und Aktionsformen der Popkultur gekennzeichnet ist – was wiederum nicht despektierlich gemeint sein soll. Gut, dass es diesen Feminismus gibt. Und auch den aus dem Roman, der sich, sagen wir es so, mit dem »Umwälzen alter, unbeliebter Müllhaufen« der Gesellschaft befasst, wie es eine Protagonistin formuliert: Wer macht die Arbeit, wer bekommt das Geld und die Anerkennung, wer geht putzen und wer wird Millionär, und wer versorgt so lange die Kinder?
Zu loben ist an »Hippocampus« zuvorderst die große handwerkliche Kunst, mit der die Fabel erzählt wird. Wie ein trügerisch ruhiges Wasser liegt der Text da, scheinbar glatt und allzu leicht zu befahren.
Eine früh berühmt gewordene Autorin verstirbt am Alkohol, nachdem um sie schon lange Grabesruhe eingetreten war. Ihre langjährige Freundin ist mit der Nachlassverwaltung betreut und hat sich unvermutet um das Schicksal eines Werkes zu kümmern, das postum für den deutschen Buchpreis nominiert wurde. Gemeinsam mit einem zufällig herbeigewehten Kameramann tritt sie eine klapprige Odyssee an, in deren Verlauf eine Guerillakunst entwickelt wird, um das Andenken der Verstorbenen und das Patriarchat zugleich zu beackern, während die beinahe alte Frau und der noch recht junge Mann sich erotisch näher kommen.
Diese einfache, aber, wenn man sie ernsthaft erzählt, mit vielen Widerhaken versehene Story rollt Gertraud Klemm höchst gekonnt auf, geradeaus, uneitel, aber nie simpel, mit biegsamer, lebendiger, österreichisch-grindiger Sprache. Gegenwart und Erinnerung fließen unaufdringlich ineinander und vor allem die Annäherung
des männlichen Protagonisten an das ihm zunächst geradezu absurd erscheinende Thema Feminismus und die wachsende erotische Anziehung zwischen dem heterosexuellen Paar ist dramaturgisch exzellent gestaltet.
So gibt es hier viel, woran sich unterschiedlichste Leserinnen und Leser mit den Ringelschwänzchen festschlingen dürfen, viele Eierchen, die die Autorin hier in unsere Bauchtaschen versenkt: das Altern, die Liebe, die Feminismen durch die Generationen, Kunst, Öffentlichkeit und Privatheit, Kampf, Einsamkeit und Nähe, eine ganze Welt unter der Oberfläche des scheinbar so sattsam bekannten trüben Tümpels »Literatur«. 380 Seiten ohne eine einzige langweile Stelle, das muss man auch erst mal schaffen.
Warum dieses Buch bisher nirgendwo auf den Bestenlisten des Jahres aufgetaucht ist, wer weiß das schon so genau? Ach, wer ein bisschen den Literaturbetrieb verfolgt, der weiß, es ist einfach zu eigenständig, erzählt große Themen zu leicht und schert sich nicht um irgendwelche Moden, ganz wie das Seepferdchen, das seit Urzeiten durch die Meere schunkelt und, oft unbeachtet, doch nie aus der Mode kommt.
Schön gestaltet in Farbe, Druckbild und Geruch ist das Buch auch noch.
Abschließend noch die Gratisinformation, dass das Seepferdchen zu den Fischen gehört, Gertraud Klemm aber zu den ganz großen Autorinnen.
Wer macht die Arbeit, wer bekommt das Geld und die Anerkennung, wer geht putzen und wer wird Millionär, und wer versorgt so lange die Kinder?