Irans gestohlene Wahl
Über die Hälfte der Kandidaten für die Abstimmung wurde bereits vor dem Urnengang disqualifiziert
Während die religiöse Führung ihre Macht durch eine manipulierte Wahl sichern will, wächst die Wut der Bevölkerung. Es wird zum Boykott aufgerufen, selbst der Präsident äußert offen Kritik.
Während US-Außenminister Mike Pompeo am Mittwochabend nach Saudi-Arabien gereist ist – Kernthema des Besuchs ist eine gemeinsame Anti-Iran-Front –, bereitet sich die Islamische Republik Iran auf die Parlamentswahlen vor. Die Probleme in und um das Land sind groß: Es droht ein Krieg mit den USA, das Land ist von Sanktionen gebeutelt, die Menschen leiden. Doch die Chancen der einzelnen Bürger, durch ihre Beteiligung am demokratischen Prozess eine wirklich tiefgreifende Veränderung zu bewirken, sind gering.
Das politische System des Irans, einer islamischen Theokratie, besitzt verschiedene innere Kontrollmechanismen, durch welche verhindert wird, dass von dem angestrebten Kurs der religiösen Führung abgewichen wird. Der zwölfköpfige Wächterrat, der zur Hälfte aus religiösen Gelehrten besteht, die vom geistlichen Oberhaupt Ali Chamenei ernannt werden, prüft sämtliche Kandidaten im Vorfeld der Parlamentswahl.
Dass ein beachtlicher Teil der Bewerber es nicht auf den Wahlzettel schaffen, ist üblich. Doch bei dieser Wahl wurde bereits im Vorfeld das potenzielle Ergebnis in einem solchen Ausmaß manipuliert, dass sogar Präsident Hassan Ruhani sich zur offenen Kritik genötigt fühlte. Von 14 000 Kandidaten war über die Hälfte vom Wächterrat für ungeeignet empfunden worden.
Oberflächlich betrachtet lässt die parlamentarische Landschaft Irans in zwei Flügel einteilen: Reformisten und Hardliner. Durch das Eingreifen des Wächterrats ist bereits jetzt klar: Die Konservativen werden gewinnen. »Dies ist keine echte Wahl«, sagte deshalb der 71-jährige Präsident diese Woche im Staatsfernsehen. Präziser hätte man es wohl nicht ausdrücken können.
Doch obwohl das iranische Parlament nur ein kleines Zahnrad im komplexen politischen Systems des 83-Millionen-Einwohner Staats ist und die meiste Macht bei der religiösen Führung und den in Wirtschaft und Politik omnipräsenten Revolutionsgarden liegt, ist es nicht völlig machtlos. Zur Wahl sind alle Männer und Frauen über 18 Jahre im Besitz eines gültigen Passes zugelassen. Ungefähr 53 Millionen Iraner sind in diesem Jahr wahlberechtigt. Für Christen, Juden und die Religionsgemeinschaft der Zoroastrier sind insgesamt fünf Parlamentssitze reserviert.
Sanktionen, Proteste, Kriegsgefahr: Die iranischen Parlamentswahlen stehen im Zeichen der größten Krise, die die Islamische Republik je erlebt hat. 53 Millionen Menschen sind am Freitag zu einer Wahl aufgerufen, die keine ist.
»Die derzeitige soziale Stimmung im Iran kann als eine Mischung aus anhaltender Wut auf das Regime und dem Gefühl der Hilf- und Hoffnungslosigkeit beschrieben werden.«
Ali Fathollah-Nejad, deutsch-iranischer Politologe
Das 290-köpfige Parlament, die sogenannte Madschlis, muss das Kabinett bestätigen und hat die Fähigkeit, einzelne Minister abzulehnen. Außerdem kann es Minister und den Präsidenten mit einem Misstrauensvotum stürzen – beides ist in der jungen Geschichte der 1979 ausgerufenen Islamischen Republik bereits vorgekommen.
Es gibt mehrere Gründe, warum der Wächterrat im Vorfeld der Wahl derartig eingegriffen hat; sie alle hängen miteinander zusammen. Im Mittelpunkt steht die miserable Wirtschaftslage. Der Missmut der Bevölkerung über die Massenarbeitslosigkeit und steigenden Lebensunterhaltskosten fand im November ihren Höhepunkt. Nachdem die Regierung quasi über Nacht die Subventionen für Benzin strich und sich der Preis verdreifachte, schwappte der Wut der Menschen auf die Straße über. Hunderttausende demonstrierten über das gesamte Land verteilt. Die Regierung reagierte mit brutaler Gewalt. Bis heute lässt sich das Ausmaß kaum in Zahlen ausdrücken. Mit der Abstellung des Internets
sorgte die Führung dafür, dass kaum Informationen über die Proteste und ihre Unterdrückung an die Außenwelt gelangten.
Laut Informationen, die der Nachrichtenagentur Reuters von Mitarbeitern des iranischen Innenministeriums zugespielt wurden, sind bei den Protesten mindestens 1500 Menschen durch Sicherheitskräfte ums Leben gekommen. Diese Gewalterfahrung der Bevölkerung durch die eigene Regierung hat viele Iraner schockiert. Der deutsch-iranische Politologe Ali Fathollah-Nejad sagte gegenüber »nd«: »Die Wahlen finden drei Monate nach den bedeutsamen Protesten im November statt, den größtem Anti-Regime-Demonstrationen in der Geschichte der Islamischen Republik, deren beispielloses tödliches Vorgehen gegen die Demonstranten Schockwellen durch die Gesellschaft, die Wirtschaft und die Politik des Landes ausgelöst hat.«
Doch nicht nur die wirtschaftliche Lage sorgt derzeit in der Bevölkerung Unmut. Nach der Ermordung des Oberbefehlshabers der Revolutionsgarden,
Qassem Soleimani, durch einen US-amerikanischen Drohnenschlag am 3. Januar 2020 im benachbarten Irak, versuchte die iranische Führung, das Ereignis als Propagandamittel zur Vereinigung der Bevölkerung unter einem nationalistischen, Anti-US-amerikanischem Ressentiment zu vereinen. Doch der Plan ging schief. Spätestens der versehentliche Abschluss eines ukrainischen Passagierflugzeugs im Zuge des von den Revolutionsgarden durchgeführten Vergeltungsschlags am 10. Januar, bei dem hauptsächlich Iraner ums Leben kamen, vermittelte der Bevölkerung den Eindruck, dass die Führung bereit war, das Leben einfacher Bürger aufs Spiel zu setzen.
»Das späte Eingeständnis der Revolutionsgarden, einen Passagierjet während der ›Operation Martyr Soleimani‹ abgeschossen zu haben, untergräbt die Bemühungen des Regimes, die Beerdigungen Soleimanis zu nutzen, um eine nationalistische Dynamik zur Stabilisierung des Regimes zu schaffen«, sagt FathollahNejad.
Doch die Rechnung ging nicht auf. Stattdessen begannen, laut FathollahNejad, »Proteste gegen das Regime von Tausenden Studenten und der Mittelschicht. Die Novemberproteste aufgrund der Preiserhöhungen sowie die Proteste haben auch jene Kampagnen gestärkt, in denen der Boykott der Wahlen gefordert wird. Die derzeitige soziale Stimmung im Iran kann als eine Mischung aus anhaltender Wut auf das Regime, dem Gefühl der Hilf- und der Hoffnungslosigkeit beschrieben werden.«
Bedeutungslos wird das Ergebnis der Wahl trotzdem nicht sein. Auch unter den Hardlinern und Ultrakonservativen gibt es unterschiedliche Lager. Der Oberste Religionsführer des Landes, Ali Chamenei, ist bereits 80 Jahre alt, und das Rennen um seine Nachfolge hat längst begonnen. Als einer der Favoriten galt übrigens der Ermordete Qassem Soleimani. Das Lager, das am Freitag die meisten Stimmen ergattert, positioniert sich für die Bestimmung des Nachfolgers, vor allem in Hinblick auf die 2021 anstehende Präsidentschaftswahl.