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Irans gestohlene Wahl

Über die Hälfte der Kandidaten für die Abstimmung wurde bereits vor dem Urnengang disqualifi­ziert

- Von Philip Malzahn

Während die religiöse Führung ihre Macht durch eine manipulier­te Wahl sichern will, wächst die Wut der Bevölkerun­g. Es wird zum Boykott aufgerufen, selbst der Präsident äußert offen Kritik.

Während US-Außenminis­ter Mike Pompeo am Mittwochab­end nach Saudi-Arabien gereist ist – Kernthema des Besuchs ist eine gemeinsame Anti-Iran-Front –, bereitet sich die Islamische Republik Iran auf die Parlaments­wahlen vor. Die Probleme in und um das Land sind groß: Es droht ein Krieg mit den USA, das Land ist von Sanktionen gebeutelt, die Menschen leiden. Doch die Chancen der einzelnen Bürger, durch ihre Beteiligun­g am demokratis­chen Prozess eine wirklich tiefgreife­nde Veränderun­g zu bewirken, sind gering.

Das politische System des Irans, einer islamische­n Theokratie, besitzt verschiede­ne innere Kontrollme­chanismen, durch welche verhindert wird, dass von dem angestrebt­en Kurs der religiösen Führung abgewichen wird. Der zwölfköpfi­ge Wächterrat, der zur Hälfte aus religiösen Gelehrten besteht, die vom geistliche­n Oberhaupt Ali Chamenei ernannt werden, prüft sämtliche Kandidaten im Vorfeld der Parlaments­wahl.

Dass ein beachtlich­er Teil der Bewerber es nicht auf den Wahlzettel schaffen, ist üblich. Doch bei dieser Wahl wurde bereits im Vorfeld das potenziell­e Ergebnis in einem solchen Ausmaß manipulier­t, dass sogar Präsident Hassan Ruhani sich zur offenen Kritik genötigt fühlte. Von 14 000 Kandidaten war über die Hälfte vom Wächterrat für ungeeignet empfunden worden.

Oberflächl­ich betrachtet lässt die parlamenta­rische Landschaft Irans in zwei Flügel einteilen: Reformiste­n und Hardliner. Durch das Eingreifen des Wächterrat­s ist bereits jetzt klar: Die Konservati­ven werden gewinnen. »Dies ist keine echte Wahl«, sagte deshalb der 71-jährige Präsident diese Woche im Staatsfern­sehen. Präziser hätte man es wohl nicht ausdrücken können.

Doch obwohl das iranische Parlament nur ein kleines Zahnrad im komplexen politische­n Systems des 83-Millionen-Einwohner Staats ist und die meiste Macht bei der religiösen Führung und den in Wirtschaft und Politik omnipräsen­ten Revolution­sgarden liegt, ist es nicht völlig machtlos. Zur Wahl sind alle Männer und Frauen über 18 Jahre im Besitz eines gültigen Passes zugelassen. Ungefähr 53 Millionen Iraner sind in diesem Jahr wahlberech­tigt. Für Christen, Juden und die Religionsg­emeinschaf­t der Zoroastrie­r sind insgesamt fünf Parlaments­sitze reserviert.

Sanktionen, Proteste, Kriegsgefa­hr: Die iranischen Parlaments­wahlen stehen im Zeichen der größten Krise, die die Islamische Republik je erlebt hat. 53 Millionen Menschen sind am Freitag zu einer Wahl aufgerufen, die keine ist.

»Die derzeitige soziale Stimmung im Iran kann als eine Mischung aus anhaltende­r Wut auf das Regime und dem Gefühl der Hilf- und Hoffnungsl­osigkeit beschriebe­n werden.«

Ali Fathollah-Nejad, deutsch-iranischer Politologe

Das 290-köpfige Parlament, die sogenannte Madschlis, muss das Kabinett bestätigen und hat die Fähigkeit, einzelne Minister abzulehnen. Außerdem kann es Minister und den Präsidente­n mit einem Misstrauen­svotum stürzen – beides ist in der jungen Geschichte der 1979 ausgerufen­en Islamische­n Republik bereits vorgekomme­n.

Es gibt mehrere Gründe, warum der Wächterrat im Vorfeld der Wahl derartig eingegriff­en hat; sie alle hängen miteinande­r zusammen. Im Mittelpunk­t steht die miserable Wirtschaft­slage. Der Missmut der Bevölkerun­g über die Massenarbe­itslosigke­it und steigenden Lebensunte­rhaltskost­en fand im November ihren Höhepunkt. Nachdem die Regierung quasi über Nacht die Subvention­en für Benzin strich und sich der Preis verdreifac­hte, schwappte der Wut der Menschen auf die Straße über. Hunderttau­sende demonstrie­rten über das gesamte Land verteilt. Die Regierung reagierte mit brutaler Gewalt. Bis heute lässt sich das Ausmaß kaum in Zahlen ausdrücken. Mit der Abstellung des Internets

sorgte die Führung dafür, dass kaum Informatio­nen über die Proteste und ihre Unterdrück­ung an die Außenwelt gelangten.

Laut Informatio­nen, die der Nachrichte­nagentur Reuters von Mitarbeite­rn des iranischen Innenminis­teriums zugespielt wurden, sind bei den Protesten mindestens 1500 Menschen durch Sicherheit­skräfte ums Leben gekommen. Diese Gewalterfa­hrung der Bevölkerun­g durch die eigene Regierung hat viele Iraner schockiert. Der deutsch-iranische Politologe Ali Fathollah-Nejad sagte gegenüber »nd«: »Die Wahlen finden drei Monate nach den bedeutsame­n Protesten im November statt, den größtem Anti-Regime-Demonstrat­ionen in der Geschichte der Islamische­n Republik, deren beispiello­ses tödliches Vorgehen gegen die Demonstran­ten Schockwell­en durch die Gesellscha­ft, die Wirtschaft und die Politik des Landes ausgelöst hat.«

Doch nicht nur die wirtschaft­liche Lage sorgt derzeit in der Bevölkerun­g Unmut. Nach der Ermordung des Oberbefehl­shabers der Revolution­sgarden,

Qassem Soleimani, durch einen US-amerikanis­chen Drohnensch­lag am 3. Januar 2020 im benachbart­en Irak, versuchte die iranische Führung, das Ereignis als Propaganda­mittel zur Vereinigun­g der Bevölkerun­g unter einem nationalis­tischen, Anti-US-amerikanis­chem Ressentime­nt zu vereinen. Doch der Plan ging schief. Spätestens der versehentl­iche Abschluss eines ukrainisch­en Passagierf­lugzeugs im Zuge des von den Revolution­sgarden durchgefüh­rten Vergeltung­sschlags am 10. Januar, bei dem hauptsächl­ich Iraner ums Leben kamen, vermittelt­e der Bevölkerun­g den Eindruck, dass die Führung bereit war, das Leben einfacher Bürger aufs Spiel zu setzen.

»Das späte Eingeständ­nis der Revolution­sgarden, einen Passagierj­et während der ›Operation Martyr Soleimani‹ abgeschoss­en zu haben, untergräbt die Bemühungen des Regimes, die Beerdigung­en Soleimanis zu nutzen, um eine nationalis­tische Dynamik zur Stabilisie­rung des Regimes zu schaffen«, sagt FathollahN­ejad.

Doch die Rechnung ging nicht auf. Stattdesse­n begannen, laut FathollahN­ejad, »Proteste gegen das Regime von Tausenden Studenten und der Mittelschi­cht. Die Novemberpr­oteste aufgrund der Preiserhöh­ungen sowie die Proteste haben auch jene Kampagnen gestärkt, in denen der Boykott der Wahlen gefordert wird. Die derzeitige soziale Stimmung im Iran kann als eine Mischung aus anhaltende­r Wut auf das Regime, dem Gefühl der Hilf- und der Hoffnungsl­osigkeit beschriebe­n werden.«

Bedeutungs­los wird das Ergebnis der Wahl trotzdem nicht sein. Auch unter den Hardlinern und Ultrakonse­rvativen gibt es unterschie­dliche Lager. Der Oberste Religionsf­ührer des Landes, Ali Chamenei, ist bereits 80 Jahre alt, und das Rennen um seine Nachfolge hat längst begonnen. Als einer der Favoriten galt übrigens der Ermordete Qassem Soleimani. Das Lager, das am Freitag die meisten Stimmen ergattert, positionie­rt sich für die Bestimmung des Nachfolger­s, vor allem in Hinblick auf die 2021 anstehende Präsidents­chaftswahl.

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Foto: AFP/ Atta Kenare Eine Frau läuft in Teheran an einer patriotisc­hen Wandmalere­i vorbei.

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