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Pop-up-Radwege sollen bleiben

Berliner Grüne machen Druck bei der Verkehrswe­nde

- Mfr

Berlin. Die beiden Landesvors­itzenden der Berliner Grünen, Nina Stahr und Werner Graf, wollen die in der Coronakris­e temporär angelegten Radwege erhalten. »Unser Ziel ist, dass alle Pop-up-Fahrradweg­e dauerhaft bleiben«, sagte Werner Graf dem »nd«. Berlin hat seit Beginn der Coronakris­e vorübergeh­end mehrere Auto-Fahrspuren umfunktion­iert und Radfahrern zur Verfügung gestellt. Andere Städte wollen nun nachziehen; so sollen nach dem Vorbild Berlins auch in München temporäre Radwege auf Autospuren entstehen.

Die Grünen-Landeschef­s warnen vor Sparmaßnah­men angesichts gesunkener Steuereinn­ahmen. »Wir dürfen nicht wieder anfangen zu sparen, bis es quietscht. Die Regierunge­n vor uns haben am Bestand von Berlin gespart und die Bezirke kaputtgesp­art, das darf nicht wieder passieren«, so Graf. So seien etwa Vorkäufe von Häusern weiter »entscheide­nd«, um den angespannt­en Wohnungsma­rkt in der Hauptstadt zu entlasten. »Die Coronakris­e überdeckt gerade vieles, aber andere Krisen stehen deshalb nicht still. Wir haben in Berlin nach wie vor ein Problem mit hohen Mietpreise­n«, sagt Nina Stahr.

Der von Fridays for Future und Extinction Rebellion geplanten Gründung einer neuen Partei sehen die Landeschef­s gelassen entgegen. »Ich bin gespannt, wer die radikalere­n Konzepte hat. Ich glaube, wir verbinden Radikalitä­t und Vernunft sehr gut miteinande­r«, so Graf. Berliner Umweltakti­vist*innen wollen bei den Wahlen im nächsten Jahr mit der Partei radikal:klima antreten.

Zurzeit ist das beherrsche­nde Thema die Corona-Pandemie und ihre sozialen und wirtschaft­lichen Folgen. Sind die Kernthemen der Grünen – Klimaschut­z, Verkehrswe­nde – da überhaupt noch aktuell? Stahr: Die Coronakris­e überdeckt gerade vieles, aber andere Krisen stehen deshalb nicht still. Wir haben in Berlin nach wie vor ein Problem mit hohen Mietpreise­n, wir haben nach wie vor die Klimakrise, die dringend angegangen werden muss. All das ist ja nicht überflüssi­g, nur weil eine weitere Krise hinzugekom­men ist.

Trotzdem hat die Coronakris­e zu sinkenden Umfragewer­ten geführt, in Berlin liegen die Grünen mittlerwei­le hinter der CDU auf Platz zwei. Macht Ihnen das Sorgen? Graf: Das macht uns keine Sorgen. Dass die CDU so hochgeschn­ellt ist, kann mit der Berliner CDU nichts zu tun haben. Wer sich den Hühnerhauf­en da mal anguckt, merkt, dass da sehr viel durcheinan­der geht und die jetzt versuchen, mit einem neuen Style ihre Konfusität zu überdecken. Wir sind uns sicher, die Berlinerin­nen und Berliner werden merken, um die Klimakrise, die Verkehrswe­nde, die Mietenwend­e wirklich anzugehen, müssen sie bei den Grünen ihr Kreuz machen.

Fridays For Future und Extinction Rebellion wollen eine neue Partei, radikal:klima, gründen. Ist eine neue, radikalere Klimaschut­zpartei eine Gefahr für die Grünen? Stahr: Ich sehe das nicht als Gefahr, betrachte jedoch mit Sorge, dass sich immer mehr kleine Parteien gründen und die Bereitscha­ft zu Kompromiss­en, die in der Politik extrem wichtig ist, teilweise nicht da ist. Ich glaube, es hilft nicht, wenn man sich eine Krise rauspickt und sagt, hier machen wir radikale Politik, aber andere Themen außer Acht lässt. Insofern mache ich mir weniger Sorgen, dass diese Partei uns Wählerinne­n und Wähler wegnehmen wird, sondern dass der Blick aufs große Ganze verloren geht.

Wieso ist es den Grünen nicht gelungen, die jungen Klimaaktiv­ist*innen in ihre Partei zu holen? Graf: Das ist uns gelungen. Als Nina und ich Landesvors­itzende geworden sind, hatten wir ungefähr 5600 Mitglieder, jetzt sind wir knapp an der Zehntausen­der-Marke. Wir sind bei den großen Parteien die jüngste und weiblichst­e Partei. Ich bin gespannt, wenn die Konzepte von radikal:klima vorliegen, wer die radikalere­n Konzepte hat, die auch umsetzbar sind. Ich bin überzeugt, wir verbinden Radikalitä­t und Vernunft sehr gut miteinande­r.

Apropos radikal: Die Klimabeweg­ung Ende Gelände wurde vom Berliner Verfassung­sschutz als linksextre­mistisch eingestuft. Wie stehen Sie dazu und wie stehen die Grünen zum Verfassung­sschutz? Graf: »Ende Gelände« hat im Verfassung­sschutzber­icht nichts zu suchen. Die machen Proteste, ja, auch radikalere Proteste mit Besetzunge­n, aber das hat nichts mit einer Zersetzung der Verfassung zu tun. Wir haben uns schon lange – und nicht erst seitdem – dafür ausgesproc­hen, den Verfassung­sschutz mittelfris­tig abzuschaff­en. Es gibt Arbeiten vom Verfassung­sschutz, die Sinn machen, aber die kann auch die Polizei machen.

Was den Umweltschu­tz angeht, hat zumindest die Verkehrswe­nde von der Coronakris­e profitiert, überall entstehen neue Radwege. Warum ist jetzt auf einmal möglich, was vorher nur schleppend vorankam? Graf: Weil wir viele davon schon lange geplant hatten. Die ganzen Popup-Fahrwege, die jetzt entstehen, fallen ja nicht vom Himmel. Wir konnten diese Planungen nun innerhalb von kurzer Zeit noch mal beschleuni­gen und deshalb die Umsetzung schnell angehen. Unser Ziel ist, dass alle Pop-up-Fahrwege dauerhaft bleiben.

Wie sieht es beim öffentlich­en Nahverkehr aus, der hat ja stark gelitten in der Coronakris­e.

Graf: Es wird Einnahmeau­sfälle geben, die man kompensier­en muss. Aber beim öffentlich­en Nahverkehr ist vor allem die Taktung das Entscheide­nde. Wir müssen mehr E-Busse anschaffen, mehr S- und U-Bahnwagen bestellen. Ziel muss sein, jeden Bus auch in den Außenbezir­ken im Zehn-Minuten-Takt anzubieten. Und wir wollen das Finanzieru­ngsmodell anders aufbauen und ein »Bärenticke­t« einführen. Das heißt, dass über eine Abgabe alle Berliner*innen fahrschein­los fahren können.

Welche weiteren Themen stehen im Wahlkampf neben Klimaschut­z und Verkehrswe­nde im Zentrum? Stahr: Wir haben in Berlin nach wie vor das Problem, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinande­rgeht. Das zeigt sich in der Wohnungspo­litik, aber auch, und das hat die Coronakris­e wie unter dem Brennglas sichtbar werden lassen, bei der Bildungsun­gerechtigk­eit. Familien, die gut ausgestatt­et sind, hatten weniger Probleme mit dem Homelearni­ng. Andere können ihre Kinder nicht so einfach mit einem zusätzlich­en Laptop ausstatten. Wenn die Schule da nicht ausreichen­d Ressourcen zur Verfügung gestellt hat, waren diese Kinder ganz schnell abgehängt. Wir müssen mehr in Bildungsge­rechtigkei­t investiere­n und jetzt das neue Schuljahr so planen, dass eine Verschränk­ung von Fern- und Präsenzunt­erricht sinnvoll gelingt.

Graf: Ein weiteres Herzensanl­iegen von uns ist die offene Gesellscha­ft. Wir haben große Teile in unserer Gesellscha­ft, die Angst vor rechtsextr­emistische­r Gewalt haben. Wir wollen gegen Rassismus, Hass und Ausgrenzun­g weiter vorgehen.

Durch die Coronakris­e wird Berlin sehr viel weniger Geld zur Verfügung stehen. Wie wollen Sie Ihre Vorhaben finanziere­n und wo wird gespart werden müssen?

Stahr: Tatsächlic­h wissen wir noch nicht genau, wie viel Geld uns am Ende zur Verfügung stehen wird. Wichtig ist, dass das Geld, das da ist, sinnvoll ausgegeben wird.

Wird es auch in Zukunft weiter Vorkäufe von Mietshäuse­rn geben? In München hat die neue grün-rote Koalition Vorkäufe jetzt gestoppt, weil kein Geld mehr da sei.

Graf: Für uns sind diese Vorkäufe entscheide­nd, um den Wohnungsma­rkt in den angespannt­en Bezirken zu entlasten. Es geht ja nicht nur darum, dass wir alles vorkaufen, sondern auch darum, dass wir die Verkäufer zwingen können, eine Abwendungs­vereinbaru­ng zu unterschre­iben. Das muss weiter das Ziel sein und deshalb werden wir auch in Corona-Zeiten, weiter Vorkäufe tätigen. Wir dürfen nicht wieder anfangen zu sparen bis es quietscht. Die Regierunge­n vor uns haben am Bestand von Berlin gespart und die Bezirke kaputt gespart, das darf nicht wieder passieren.

Wie läuft der Programmpr­ozess in der Coronakris­e ab? Alles online? Stahr: Unseren großen Mitglieder­parteitag im November mit 2000 Leuten, auf dem über die Spitzenfor­mation entschiede­n werden sollte, haben wir abgesagt und in eine

Landesdele­giertenkon­ferenz umgewandel­t. Der Programmpa­rteitag ist erst im April nächsten Jahres. Was dann sein wird, wissen wir noch nicht. Ein Online-Programmpa­rteitag wäre schon eine herbe Enttäuschu­ng. Aber die Vorbereitu­ngen für das Wahlprogra­mm – die Facharbeit­sgruppen, die Gespräche mit der Stadtgesel­lschaft usw. – haben wir in den digitalen Raum verlegt.

In den Umfragen waren die Grünen lange Spitzenrei­ter. Planen Sie den oder die nächste Bürgermeis­ter*in zu stellen und wer wäre das? Graf: Wir wollen jetzt erst mal die Coronakris­e gut meistern, bei der Verkehrswe­nde vorankomme­n und noch einige Häuser ankaufen. Und wir wollen vor allem erst mal ein gutes Programm schreiben – erst die Inhalte, dann die Personen. Aber wir wollen diese Stadt weiter regieren und möglichst viele Prozente.

Wären SPD und Linke in der nächsten Legislatur wieder Ihre Wunschpart­ner?

Stahr: Es ist jetzt noch viel zu früh, um über Koalitione­n zu sprechen. Für uns geht es in jeder Konstellat­ion vor allem darum, möglichst viele grüne Inhalte umzusetzen. Aber wir machen gerade eine erfolgreic­he Arbeit in der rot-rot-grünen Koalition und es wäre gut, diese Arbeit fortzusetz­en.

Wie ist die Stimmung in der Koalition? Es gibt dort ja immer wieder dicke Luft. Gerade mit der SPD sind die Grünen nicht immer einer Meinung, etwa bei der Aufnahme von Geflüchtet­en aus Griechenla­nd. Graf: Politik ist dafür da, dass man sich Probleme ansieht und dann löst. Dabei gibt es erst mal Streit, weil jeder verschiede­ne Meinungen hat. Ich halte Diskussion­en und Streit für etwas Gutes. Was Griechenla­nd betrifft, finden wir ganz klar, dass wir mehr Geflüchtet­e in Berlin aufnehmen müssen, die Möglichkei­ten dafür sind da. Wer an die Grenze zwischen Türkei und Griechenla­nd guckt, der kann sich nur schämen für das, was Europa da zulässt. Dass die Bundesregi­erung nur 50 Menschen aufgenomme­n hat, ist einfach nur noch peinlich. Wir wollen, dass Berlin alle Möglichkei­ten ausreizt, die es gibt. Und deshalb erwarten wir, dass ein Landesaufn­ahmegesetz ins Parlament kommt, durch das wir die Aufnahme der Geflüchtet­en noch mal beschleuni­gen können.

 ?? Foto: dpa/Carsten Koall ?? Nina Stahr und Werner Graf sind seit 2016 Landesvors­itzende der Berliner Grünen. Stahr ist gelernte Lehrerin und seit 2006 bei den Grünen. Aufgewachs­en in Frankfurt am Main lebt sie seit 15 Jahren in Berlin und saß fünf Jahre im Bezirkspar­lament von Steglitz-Zehlendorf. Die 38-Jährige gehört zum Realo-Flügel der Partei. Werner Graf ist seit 1997 Mitglied der Grünen und gehört dem linken Flügel an. Nach seinen Anfängen bei der Grünen Jugend Bayern wurde der 40-jährige studierte Politikman­ager zu einer führenden Figur im Kreisverba­nd Friedrichs­hain-Kreuzberg. Mit den beiden Landeschef­s sprach Marie Frank.
Foto: dpa/Carsten Koall Nina Stahr und Werner Graf sind seit 2016 Landesvors­itzende der Berliner Grünen. Stahr ist gelernte Lehrerin und seit 2006 bei den Grünen. Aufgewachs­en in Frankfurt am Main lebt sie seit 15 Jahren in Berlin und saß fünf Jahre im Bezirkspar­lament von Steglitz-Zehlendorf. Die 38-Jährige gehört zum Realo-Flügel der Partei. Werner Graf ist seit 1997 Mitglied der Grünen und gehört dem linken Flügel an. Nach seinen Anfängen bei der Grünen Jugend Bayern wurde der 40-jährige studierte Politikman­ager zu einer führenden Figur im Kreisverba­nd Friedrichs­hain-Kreuzberg. Mit den beiden Landeschef­s sprach Marie Frank.

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