Es ist an der Zeit zu kämpfen
Annelis Kimmel über die Gründung der Gewerkschaften vor 75 Jahren, die Auflösung des FDGB und die Attacken auf soziale Errungenschaften heute
Frau Kimmel, interessanterweise wurde der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB), bekannt als Einheitsgewerkschaft der DDR, mit diesem Namen bereits am 18. März 1945 in Aachen gegründet, noch in Kriegszeiten. Wie kam es dazu?
Dies ist ein Zeugnis dafür, dass deutsche Antifaschisten sich sogleich nach der Befreiung vom Faschismus um einen demokratischen Neuanfang bemühten und die Lehren aus der Geschichte ziehen wollten. Aachen hatte das Glück, schon im Oktober 1944 von der US-Armee befreit zu werden. Nach der bedingungslosen Kapitulation Nazideutschlands am 8. Mai 1945 strebten in ganz Deutschland, nicht nur in der Sowjetischen Besatzungszone, sondern auch von Hamburg bis München, Gewerkschafter, Kommunisten, Sozialdemokraten und auch Christen, die aus den Zuchthäusern, Konzentrationslagern oder aus der Emigration zurückkehrten, die Gründung einer Einheitsgewerkschaft an – eine Erkenntnis aus der Niederlage der zersplitterten Arbeiterbewegung im Januar 1933.
Am 13. Juni 1945 konstituierte sich der Vorbereitende Gewerkschaftsausschuss für Groß-Berlin, de facto die Geburtsstunde des FDGB in der SBZ. Was ist der Vorzug der Einheitsgewerkschaft gegenüber unabhängigen Branchen- und Industriegewerkschaften? Einerseits wurde, wie schon gesagt, das Fehlen einer Einheitsgewerkschaft als eine Ursache dafür angesehen, dass der Machtantritt der Nazis nicht verhindert werden konnte. Andererseits dominierte die Einsicht, dass nur eine Einheitsgewerkschaft die gesamte Palette der Gewerkschaftsarbeit wahrnehmen könne. Die Losung »Ein Betrieb, eine Gewerkschaft« war insofern logisch und konsequent. Zum anderen konnte eine Einheitsgewerkschaft auch die vier Prioritäten damals in Deutschland besser erfüllen: Entnazifizierung, Demokratisierung, Enteignung der Nazi- und Kriegsverbrecher und Kriegsprofiteure in Schlüsselindustrien sowie die Bodenreform.
Inwieweit konnten die im FDGB vereinten Gewerkschaftsverbände, von Bergbau, Bau und Holz, Handel und Versorgung bis hin zu Wissenschaft und Kultur, ihre authentischen Interessen noch durchsetzen? Wurde da nicht eher vieles nivelliert?
Es wurde nivelliert. Die Einzelgewerkschaften hatten in ihren Bereichen volle Bewegungsmacht, allerdings keine Macht über das Geld. Darüber verfügte der Bundesvorstand des FDGB. Dieses Problem spielte eine große Rolle in den Diskussionen im Herbst 1989. Die Industriegewerkschaften wollten jetzt auch die Finanzmacht.
Sie war einen Monat lang Vorsitzende des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB): Annelis Kimmel, geboren 1934 in einer sächsischen Arbeiterfamilie. Die gelernte Mechanikerin und studierte Ingenieurin absolvierte die FDJ-Jugendhochschule »Wilhelm Pieck« am Bogensee, die Komsomol-Hochschule in Moskau sowie die Parteihochschule »Karl Marx«. Seit 1979 Mitglied des FDGB-Bundesvorstandes und von 1981 bis Januar 1990 der FDGB-Fraktion in der Volkskammer, wurde sie im Herbst ’89 an die Spitze der DDR-Einheitsgewerkschaft gewählt.
Was sagen Sie zum Vorwurf, dass der FDGB ein Instrument im politisch-ideologischen Machtgefüge der SED war?
Nach den gesamtdeutschen Anfängen bis 1947, einschließlich der neun InterzonenKonferenzen, zogen sich die westdeutschen Gewerkschaften zurück. Dies geschah mit ihrer Zustimmung zum US-amerikanischen Marshall-Plan, der einen raschen Wiederaufbau der nach der militärischen Zerschlagung Hitlerdeutschlands darniederliegenden Wirtschaft versprach, sowie mit ihrem Bekenntnis zur Gründung der Bundesrepublik 1949. Damit war der Gedanke einer gesamtdeutschen Einheitsgewerkschaft passé.
Der FDGB folgte mit seinem Bekenntnis zur einen Monat nach der Bundesrepublik ins Leben gerufenen Deutschen Demokratischen Republik. Dieses war verbunden mit der Gewissheit, dass die Vergesellschaftung der Produktionsmittel sowie von Grund und Boden den Menschen dient. Was von den Werktätigen erarbeitet wird, kommt allen zugute, wandert nicht ab in die Taschen von Privatiers, Monopolen, Banken und Großagrariern. Das ist auch eingehalten worden, hat sich allerdings ab Ende der 70er Jahre insofern als problematisch erwiesen, als die gut gemeinte Sozialpolitik nicht mehr ausreichend ökonomisch fundiert war.
Der FDGB bildete die zweitgrößte Fraktion in der Volkskammer, nach der SED. Haben Sie und Ihre Kollegen im Parlament die Beschlüsse der Partei nur abgesegnet?
Nein. Wir haben letztlich die Beschlüsse der Regierung für gut befunden. Aber wir haben auch eigene Vorschläge eingebracht und durchgesetzt, zum Beispiel im Juni 1957 das Arbeitsgesetzbuch. Oder den monatlichen Haushaltstag für Frauen und Mütter. Für uns, für die vielen ehrenamtlichen und hauptamtlichen Funktionäre in den Gewerkschaften, war vor allem wichtig, dass der auf Basis des Volkseigentums erarbeitete Mehrwert nicht zweckentfremdet wird, sondern jenen einen gewissen Wohlstand garantiert, die ihn erarbeitet haben.
Man kennt Fälle von korrumpierten westdeutschen Gewerkschaftsfunktionären – klassischer Fall: der Ausflug des VW-Betriebsrates zu einem Happy Weekend nach Rio de Janeiro. Gab es Ähnliches in der DDR? Die Stippvisite einer Betriebsgewerkschaftsleitung nach Brasilien gewiss nicht. Wir wurden allerdings im Herbst ’89 mit Vorwürfen der Korruption konfrontiert. Und sind damals richtig erschrocken. Für uns war das völlig unvorstellbar, undenkbar. Wir haben versucht, das alles aufzuarbeiten. Nach meiner Kenntnis waren solche Verfehlungen minimal. Und das hatte auch nichts zu tun mit der praktischen Arbeit der Gewerkschaften in den Volkseigenen Betrieben und Kombinaten.
In der Verfassung der DDR von 1974 war kodifiziert, dass die Gewerkschaften die führende Rolle der SED und ihres Zentralkomitees anzuerkennen haben. Warum wurde das einfach so hingenommen?
Schon 1957 ist der Beschluss gefasst worden, die »führende Rolle« der SED anzuerkennen, als noch der geringste Anteil der FDGB-Mitglieder der SED angehörten. Darüber haben wir auch ’89 diskutiert. Im Übrigen: Westdeutsche Gewerkschaftsfunktionäre sind ganz stark und fest mit der SPD verbunden. Dagegen ist ja auch nichts zu sagen. Nur uns wurde und wird die Nähe zur SED vorgeworfen. Gewiss, man hätte einiges anders machen können oder auch müssen.
Der FDGB war zentralistisch organisiert, was nicht viel mit den Traditionen der Arbeiterbewegung zu tun hat. Die Betriebsräte, die in der deutschen Novemberrevolution 1918 eine große Rolle gespielt hatten, wurden schon in der SBZ eliminiert.
Vieles von dem, was im Betrieb an Sozialleistungen geboten wurde, hätten die Betriebsräte nicht erfüllen können. Sie wurden in voller Verantwortung im Betrieb vom FDGB um