Da kommt was ins Rollen
Bei der Rückkehr aus der Coronapause werden Radrennveranstalter kreativ.
Ungewöhnliches geht am Rande des schwäbischen Städtchens Heubach vor. Ein Start- und Zieltor, wie bei Radrennen üblich, wurde mitten in den Wald gestellt. »Es ist kleiner als sonst, besteht aus zwei Holzpfosten und einer Planke darüber. Drei, maximal vier Fahrer haben darunter nebeneinander Platz. Aber es ist ein richtiger Start-Ziel-Bogen«, erzählt Sven Strähle dem »nd«. Der Mountainbiker, Jahrgang 1995, wohnt unweit der Rennstrecke. Er ist sie auch schon abgefahren, gemeinsam mit seinem Teamkollegen Luis Neff. Nur die beiden waren im Wald unterwegs. Nun gut, sie trafen auf ein paar Spaziergänger, die die Rennstrecke kreuzten. »Sonst aber war es richtig still. Gewöhnlich starten bei solchen Rennen 500, manchmal sogar 600 Teilnehmer. Diesmal aber war es ganz anders«, beschreibt Strähle die Szenerie.
Anders ist es natürlich wegen Corona. Menschenansammlungen sind kritisch, weil sie die Ausbreitung des Virus befördern können. Menschenansammlungen sind andererseits aber typisch für Bike the Rock, die Traditionsveranstaltung der Mountainbiker in Heubach. »Letztes Jahr hatten wir bei den verschiedenen Rennen allein mehr als 1000 Teilnehmer«, erzählt Mitorganisator Stefan Schreier. Sonst gibt es neben dem Marathonrennen, noch Cross Country, Enduro (eine Art Abfahrtsrennen) und Pumptrack über einen Wellenparcours, auf dem Männer und Frauen durch die Luft fliegen und Tricks zeigen.
Bike the Rock war für Ende April geplant, wurde dann aber abgesagt. »Wir haben dennoch überlegt, wie wir auch nach den aktuell gültigen Verhaltensregeln ein Rennen veranstalten können. So sind wir auf die Corona Challenge gekommen«, berichtet Schreier von der neuen Form des Marathonrennens. Das beginnt nun selbstverständlich nicht mehr mit einem Massenstart. »Wer teilnehmen will, muss sich bei uns anmelden. Er erhält dann eine Startzeit, zu der er auf die Strecke gehen kann«, beschreibt Schreier die Prozedur. Maximal zwei Fahrer können gleichzeitig starten. Nach 30 Minuten sind dann die nächsten an der Reihe. Es ist ein bisschen wie bei virtuellen Rennen: jeder auf seinem Rad für sich. Aber immerhin gibt es die Strecke, den Wald, den Wind und den Sonnenschein ganz real.
Ihre Fahrtzeit stoppen die Athleten selbst. »Man drückt ›Start‹ auf seinem Renncomputer. Und dann geht es los«, berichtet Sven Strähle. So einen Computer habe heutzutage doch jeder am Rad, zumindest jeder Lizenzfahrer, meint er. Und nur wer eine Rennlizenz vom Bund Deutscher Radfahrer hat, ist zu diesem Rennen auch startberechtigt. Am Ende der Strecke drückt man auf ›Stop‹ und lädt die GPS-Daten hoch. Betrug, etwa durch Abkürzungen oder eingebaute Elektromotoren, hält Organisator Schreier für kaum durchführbar. »Wir sind mehrfach die Strecke abgefahren, wir sehen die Leistungsdaten. Und wir können erkennen, wenn etwas nicht stimmt«, versichert er.
Die Rennstrecke der inoffiziellen deutschen Meisterschaft bekommt jeder Teilnehmer direkt auf seinen Renncomputer geladen, sodass er sich leiten lassen kann. »Es gibt auch ein Video von der Strecke. Es lohnt sich, es sich vorher mal anzugucken und vielleicht noch die drei, vier unübersichtlichen Stellen abzufahren. Das macht man bei anderen Wettbewerben sonst ja auch«, rät Schreier.
Solcherart Orientierungshilfen brauchten die insgesamt 52 Rennradfahrer, die Ende Mai auf dem Sachsenring fuhren, nicht. 3,5 Kilometer lang war die insgesamt 22-mal zu durchfahrende Runde auf der komplett abgesperrten traditionellen Motorsportrennstrecke, auf der Bernhard Eckstein vor 60 Jahren Amateur-Radweltmeister geworden war. Der Westsachsenklassiker wurde nun zum Auftakt der deutschen Radsportsaison im Zeichen von Corona. »Die Freude war riesengroß bei den Sportlern, dass es nach diesen langen Wochen des Trainings endlich wieder losging«, erzählt Nick Kracik, Radsporttrainer am Olympiastützpunkt Berlin und zugleich sportlicher Leiter des U23Rennstalls KED-Stevens. Das Ambiente dieses Eliterennens war speziell. »Auf das Gelände kam man nur mit Bändchen. Auf dem Parkplatz musste Abstand gehalten werden, nur jeder zweite Parkplatz war besetzt. Die Startaufstellung war dann wie bei einem Motorradrennen, mit Abstandsmarkierungen auf dem Boden«, schildert Kracik.
Kurz nach dem Start bildete sich aber das klassische Fahrerfeld heraus. Seite an Seite fuhren die Fahrer und versuchten, so gut wie möglich im Windschatten ihrer Vorderleute zu bleiben. »Straßenradsport mit den gerade gültigen Abstandsregeln ist einfach nicht möglich. Das war allen vorher klar«, sagt Kracik. Einzige Absicherung für die Sportler war, dass jeder unterzeichnete, bei voller körperlicher Leistungsfähigkeit zu sein und in den 14 Tagen zuvor keine Symptome an sich beobachtet zu haben.
Das klingt gewagt. Für einen Ausdauersport wie den Radsport ergibt das aber Sinn. Wer krank ist, hält ein Rennen über 122 Kilometer mit etwa 3000 Höhenmetern nicht einmal im Dauerwindschatten der Besten durch. Pragmatik und gegenseitige Rücksichtnahme stehen hier vor absoluter Sicherheit. Das kann als Leitfaden auch für die kommenden Monate im Zeichen des Coronavirus gelten. Möglich war das Rennen auf dem Sachsenring nur, weil es sich nicht um öffentliches Straßenland handelte. »Das hätte das sächsische Innenministerium nicht gestattet. Nur auf dem abgesperrten Bereich des Sachsenrings konnten wir die Eindämmungsvorschriften einhalten«, erzählt Organisator Dietmar Lohr dem »nd«.