Auf Minneapolis folgt Atlanta
Heftige Proteste nach weiterem Fall tödlicher Polizeigewalt in den USA
Berlin. Demonstrationen, ein brennendes Schnellrestaurant, eine blockierte Autobahn: Nach dem Tod des 27-jährigen Afroamerikaners Rayshard Brooks am Freitag in Atlanta sind die Proteste gegen rassistische Polizeigewalt am Wochenende wieder heftiger geworden.
Im Detail mag es einige Unterschiede zum Tod von George Floyd in Minneapolis vor fast drei Wochen geben. So soll sich Brooks seiner Festnahme widersetzt und Polizisten mit einem Elektroschocker bedroht haben. Doch das Muster ist das gleiche: Wieder wurde ein Afroamerikaner wegen einer Banalität kontrolliert – der vierfache Vater soll angetrunken in seinem Auto geschlafen und die Einfahrt zum Restaurant blockiert haben – und starb wegen unverhältnismäßiger Gewaltanwendung der Polizei. So lautet nicht nur der Vorwurf des Anwalts von Brooks’ Familie. Auch die Bürgermeisterin von Atlanta, Keisha Lance Bottoms, sagte: »Ich glaube nicht, dass dieser Einsatz tödlicher Gewalt gerechtfertigt war.«
Der Polizist, der Rayshard Brooks mit Schüssen tödlich verwundet hatte, wurde am Samstag entlassen, ein weiterer Polizist, der an der versuchten Festnahme beteiligt war, wurde versetzt. Polizeichefin Erika Shields erklärte ihren sofortigen Rücktritt.
An vielen Orten der Welt fanden am Wochenende wieder Demonstrationen und Kundgebungen gegen Rassismus und Polizeigewalt statt, von San Francisco bis Tokio und von Newcastle bis Johannesburg.
Auch bei den Aktionen des Bündnisses »Unteilbar« am Sonntag in mehreren deutschen Städten war die Solidarität mit der Black-Lives-Matter-Bewegung und mit Geflüchteten das bestimmende Thema. In Berlin spannten mehrere Tausend ein »Band der Solidarität« – die pandemiegerechte Menschenkette reichte vom Neuköllner Hermannplatz bis zum Brandenburger Tor.
Unter anderem in Berlin, Leipzig und Hamburg organisierte »Unteilbar« am Wochenende Kundgebungen. 20 000 forderten alleine in der Hauptstadt eine gerechte Verteilung der Pandemiekosten.
»Die verschiedenen Ungerechtigkeiten werden durch die Coronakrise wie durch ein Brennglas verstärkt«, sagte Thomas Hoffmann, Sprecher des »Unteilbar«-Bündnisses, am Sonntag in Berlin. Daher sei es wichtig, gerade auch in Zeiten der Krise auf die Straße zu gehen. Unter dem Motto »SogehtSolidarisch« protestierten am Wochenende Tausende in mehreren Städten für eine soziale und klimagerechte Gesellschaft und gegen Rassismus.
Grün, gelb, orange, blau, rosa – an drei Meter langen Plastikbändern in verschiedenen Farben hielten sich die Protestierenden in Berlin fest und bildeten so eine neun Kilometer lange Menschenkette, die vom Brandenburger Tor über den Alexanderplatz bis zum Hermannplatz reichte. Ähnlich bunt war auch das Bündnis aus 130 Initiativen, Verbänden, Gewerkschaften und Parteien, die zu der Kundgebung aufgerufen hatten.
»Wir stehen dafür ein, dass die verschiedenen solidarischen Kämpfe nicht gegeneinander ausgespielt werden«, sagte Hoffmann dem »nd«. Organisiert wurde die Aktion vom Bündnis »Unteilbar«, das im Oktober 2018 unter dem Motto »Für eine offene und freie Gesellschaft – Solidarität statt Ausgrenzung« rund 240 000 Menschen auf die Straße gebracht hatte.
Auch außerhalb Berlins nahmen am Sonntag Zehntausende in Städten wie Leipzig, Hamburg, Freiburg, Passau und Münster an den Demonstrationen teil. Laut Angaben von »Unteilbar« gingen alleine in der Hauptstadt 20 000 Menschen auf die Straße.
Alle, die nicht an Kundgebungen teilnehmen konnten, waren dazu aufgerufen, online unter den Hashtags #sogehtsolidarisch und #unteilbar mitzumachen. Über einen Livestream
konnten die Aktionen im Netz verfolgt werden.
Die Coronakrise stelle einen Wendepunkt dar, schreiben die Organisationen in ihrem Aufruf: »Jetzt wird entschieden, ob wir es schaffen, uns gemeinsam auf den Weg in eine antirassistische, soziale und klimagerechte Gesellschaft zu machen – für ein besseres Leben für alle.« Auf dieser Grundlage versammelten sich am Sonntag zahlreiche Organisationen, die sich für unterschiedliche Forderungen stark machten.
»Wir müssen alle zusammenstehen und die Krise solidarisch lösen«, forderte Sonja Staack, stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes
(DGB) BerlinBrandenburg. Viele Menschen, denen es ohnehin schon schlecht gehe, seien durch die Coronakrise unter Druck geraten. »Wir fordern, dass die Krisenkosten gerecht verteilt werden«, sagte Staack.
»Wir gehen gegen Rassismus und Diskriminierung und für die Einhaltung der Menschenrechte auf die Straße«, sagte Amnesty-Pressereferentin Cora Eichholz dem »nd«. Insbesondere in Zeiten der Krise dürften diese Anliegen nicht vergessen werden. »Diese Themen hören wegen Corona nicht einfach auf«, so Eichholz.
Nach Verstößen gegen die Corona-Auflagen bei Großdemonstrationen mit Zehntausenden Teilnehmenden in den vergangenen Wochen wurde auch Kritik an den Protesten laut. Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) hatte die Demonstranten vor dem Wochenende dazu aufgefordert, die Hygieneregeln einzuhalten. »Setzen Sie ein starkes demokratisches Signal, aber tun Sie es mit Verantwortungsbewusstsein«, forderte er am Freitag in einer Videobotschaft. Per Auflage wurden die Teilnehmer*innen dazu verpflichtet, einen Mund-NaseSchutz zu tragen. Die große Mehrheit der Demonstrierenden hielt sich an diese Regel.
Dass Protestieren auch in Zeiten einer Pandemie möglich ist, habe die Menschenkette am Sonntag eindrücklich gezeigt, sagte Demonstrationsteilnehmerin Laura Timm zu »nd«. »Es ist wichtig, klar zu machen, dass es möglich ist, coronakonform zu demonstrieren«, so Timm.
»Das Besondere an Unteilbar ist, dass der gemeinsame Protest zeigt, dass die Verbindung verschiedener Kämpfe Sinn ergibt«, sagte Georg Kössler, der sich gemeinsam mit Timm für eine Evakuierung der Geflüchtetenlager in Griechenland und ein humanes Aufnahmesystem einsetzt. Besonders beeindruckend sei das breite gesellschaftliche Bündnis: »Unteilbar zeigt, dass linksradikale Kämpfe und bürgerlicher Protest für eine solidarische Politik zusammengehen.«