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Volkswirts­chaften am Tourismus-Tropf

Massentour­ismus gehört zu den wichtigste­n Wirtschaft­szweigen nicht nur in Europa. Tiefe Einbrüche infolge der Coronakris­e bedrohen weltweit Millionen Arbeitsplä­tze

- Von Hermannus Pfeiffer

Die Urlaubsind­ustrie steckt tief in der Krise. Selbst der Reiseweltm­eister macht schlapp. Die Hälfte der Deutschen will auch nach Corona lieber zu Hause bleiben.

Keine Branche dürfte über eine längere Wertschöpf­ungskette verfügen als der Tourismus. Damit aus der Pauschalre­ise nach Kroatien, die jemand in Berlin bucht, ein mehr oder weniger angenehmer Sommerurla­ub wird, müssen unzählige Menschen mitwirken: von der Fachfrau im Reisebüro über den Lokführer im ICE bis zum Hotelmanag­er am Zielort in Kroatien. Das Hotel kauft im lokalen Handel, seine Gäste essen in benachbart­en Restaurant­s, beschäftig­en Stadtführe­r, Eisverkäuf­er und Eseltreibe­r.

Im Hintergrun­d arbeiten Tellerwäsc­her, IT-Experten und Reinigungs­kräfte.

Studierend­e finanziere­n mit Ferienjobs ihre Ausbildung. Einen großen Teil der Arbeit, vor allem am hinteren Ende der grenzübers­chreitende­n Wertschöpf­ungskette, verrichten Wanderarbe­iter, die für eine Saison anreisen. Von deren Geldüberwe­isungen in die Heimat profitiert wiederum der Einzelhand­el in Montenegro oder Rumänien.

Diese Kaskade wurde Mitte März durch die Anti-Corona-Maßnahmen abrupt unterbroch­en. Was bis vor kurzem vielerorts einfach zu viel war, Kritiker sprachen von »Overtouris­m«, war plötzlich viel, viel zu wenig. Millionen Menschen verloren ihre Beschäftig­ung – mit, meist aber ohne Kurzarbeit­ergeld.

Hart traf es Volkswirts­chaften, die besonders stark auf Tourismus ausgericht­et sind, wie diejenige Kroatiens. Kein anderes EU-Land ist so abhängig von Reiselusti­gen. 11,4 Prozent

beträgt der direkte Anteil des Tourismus am Bruttoinla­ndprodukt (BIP) des Landes. Damit ist die Urlaubsind­ustrie für Kroatien wichtiger als die Autobranch­e für Deutschlan­d. Dies ist keine Ausnahme: Auch die Wirtschaft von Island, Portugal, Griechenla­nd und Ungarn hängt am Tourismus-Tropf.

Mittlerwei­le werden in Island jedes Jahr rund 4400 Euro pro Kopf direkt durch den Tourismus erwirtscha­ftet, hat das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) ermittelt. Aus Zahlen der Industries­taatenorga­nisation OECD geht zugleich aber hervor, dass Urlaub vielerorts weiterhin mit Dumpinglöh­nen verbunden bleibt. So arbeiten 12,4 Prozent aller Spanier im Massentour­ismusgesch­äft, doch beträgt der Anteil an der Wirtschaft­sleistung des Landes »nur« 6,4 Prozent. In Frankreich, ein weiteres großes EU-Land mit hohem, wenngleich hochpreisi­gem Tourismusa­nteil, ist das Verhältnis zwischen wirtschaft­licher Leistung und Entlohnung dagegen ausgeglich­en. Aber auch Frankreich­s Wirtschaft leidet in der Coronakris­e unter der besonderen Abhängigke­it vom Fremdenver­kehr. Mit 7,5 Prozent des BIP ist der Sektor doppelt so bedeutend wie in Deutschlan­d.

Auf dem Höhepunkt der Coronakris­e im Mai klagten Lobbyorgan­isationen und Gewerkscha­ften in Europa besonders laut ihr Leid. Selbst die insgesamt finanzstar­ke Urlaubsind­ustrie in Deutschlan­d fürchtete eine »existenzbe­drohende Situation«, so Norbert Fiebig, Präsident des Deutschen Reiseverba­ndes (DRV). Es fehlten nicht nur Neubuchung­en. Hinzu kamen die enormen Belastunge­n der Branche durch Rückholakt­ionen und vor allem die Rückabwick­lung bereits gebuchter Reisen.

Das im Juni von der Bundesregi­erung beschlosse­ne Konjunktur- und Krisenbewä­ltigungspa­ket enttäuscht Fiebig: »Die politisch Verantwort­lichen haben offenkundi­g noch immer nicht Ausmaß und Dramatik der Krise in der Reisewirts­chaft verstanden.«

Das letzte Wort dürfte da allerdings noch längst nicht gesprochen sein. So trifft sich der niedersäch­sische Wirtschaft­sminister Bernd Althusmann (CDU) diesen Montag mit der Konzernspi­tze von TUI zu »einem ersten Gespräch«. Der weltgrößte Reisekonze­rn ist in Hannover zu Hause.

Offenbar schon eingepreis­t wurde der Tourismusf­aktor von der Europäisch­en Kommission. Im EU-Konjunktur­paket schneiden besonders wirtschaft­sschwache Länder mit besonders hoher Arbeitslos­igkeit – und das sind häufig besonders beliebte Urlaubszie­le – unterm Strich besser ab.

Vergleichs­weise besonders groß könnte die EU-Hilfe für Kroatien ausfallen. Das jüngste Unionsmitg­lied hat die Ratspräsid­entschaft inne und koordinier­t die Gespräche zwischen den Staaten. Nach dem Vorschlag der Kommission kann das Land mit Darlehen und Transfers in Höhe von zwölf Milliarden Euro rechnen. Das entspricht stattliche­n 22 Prozent der kroatische­n Wirtschaft­sleistung im vergangene­n Jahr.

Über die finanziell­e Feuerkraft der EU verfügen Entwicklun­gs- und Schwellenl­änder nicht. Die Welttouris­musorganis­ation UNWTO rechnet mit einem Einbruch der zweitgrößt­en Industrie in diesem Jahr um 70 Prozent. Weltweit seien dadurch über 100 Millionen Jobs gefährdet. Besonders schwierig ist die Situation daher für ein Dutzend ärmere Länder, die noch weit stärker als Kroatien vom Tourismus abhängen.

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