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Pflegebedü­rftige am Rand der Gesellscha­ft

Die Deutsche Stiftung Patientens­chutz sieht ältere Menschen während der Coronakris­e als diskrimini­ert an

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Wie ergeht es Corona-Risikopati­enten jetzt nach den Lockerunge­n? In den Pflegeeinr­ichtungen lebt die Hochrisiko­gruppe auf engstem Raum zusammen. Für die 800 000 Menschen dort hat sich infolge der Lockerunge­n kaum etwas verändert. Selbst dann nicht, als Betretungs­verbote für die 11 200 Heime aufgehoben wurden. Ohne Zweifel ist das Virus für die Bewohner hochgefähr­lich. Doch Einrichtun­gen zu Hochsicher­heitszonen auszubauen, kann keine Lösung sein.

Welche Forderunge­n haben Sie an die Politik?

Die Bundesländ­er müssen den Pflegeeinr­ichtungen einheitlic­he Vorgaben machen. Das ist aktuell nicht der Fall. Es braucht daher dringend ein Konzept, das den Menschen in den Heimen mehr Teilhabe am öffentlich­en Leben ermöglicht und nicht weiter einschränk­t.

Dazu gehören systematis­che, wöchentlic­he Testungen von Pflegebedü­rftigen und Altenpfleg­ekräften. Diese sind aber kein Ersatz für einen sicheren Infektions­grundschut­z. Außerdem ein Monitoring, das zeigt, wer mit wem wann in der Einrichtun­g Kontakt hatte. Vorgeschri­eben werden muss zudem eine klare Trennung von Infizierte­n, Nichtinfiz­ierten und Menschen, deren Testergebn­is noch nicht vorliegt. Derzeit werden alle Heimbewohn­er in der Regel gleicherma­ßen beschränkt. Doch das ist vollkommen unverhältn­ismäßig.

Ein Öffnungsko­nzept kann nur mit einer geringeren Bettenausl­astung in den Heimen realisiert werden. Seit Beginn der Pandemie ist das geübte Praxis in den Krankenhäu­sern. Diese Flexibilit­ät fehlt in den Pflegeeinr­ichtungen. Aktuell wird eher zugemacht, auch wenn es keine Infektione­n gibt. Das ist keine Lösung.

Ist das auch nach den Lockerunge­n jetzt so? Viele Heime bundesweit sind inzwischen wieder offen für Besucher.

Ja, das ist auch jetzt noch so. Am bundesweit­en Patientens­chutztelef­on erreichen uns aktuell dramatisch­e Schilderun­gen von Angehörige­n. Kurze Spaziergän­ge in der Umgebung und spontane Besuche bleiben in den Heimen die Ausnahme. Auch notwendige Therapien oder Dienstleis­tungen wie die Fußpflege können wegen den strengen Hygienereg­elungen kaum erfolgen. Die Konsequenz­en sind Vereinsamu­ng und Isolation. Das hat mit Lebensfreu­de, Selbstbest­immung oder Menschenwü­rde nichts zu tun. Oft erleben wir auch Frust. Pflegebedü­rftige schauen aus dem Fenster, sehen dort die Pflegekräf­te ohne Mundschutz eng zusammenst­ehen. So gelangt das Virus durch die Hintertür in die Heime. Warum Angehörige­n der Zugang erschwert wird, ist für die Betroffene­n nicht nachvollzi­ehbar.

Sollte bei den Leitlinien zwischen Menschen differenzi­ert werden, die das Coronarisk­io einschätze­n können und Menschen, die dazu krankheits­bedingt nicht in der Lage sind? Die etwa nicht verstehen, dass sie sich oft die Hände waschen sollten?

Mit einer Aufteilung in drei Bereiche in jeder Pflegeeinr­ichtung wird jeder in den Blick genommen. Es darf nicht vergessen werden, dass 70 Prozent der Pflegeheim­bewohner dementiell erkrankt sind. Diese Menschen müssen besonders gestützt und geschützt werden.

Besteht überhaupt ein Weg, über die föderale Zersplitte­rung hinauszuko­mmen, sodass Gesundheit­sämter beziehungs­weise Bundesländ­er nicht mehr individuel­l über Lockerunge­n entscheide­n?

Die Möglichkei­t besteht, wenn die Gesundheit­sminister der Länder endlich verbindlic­he Richtlinie­n erlassen. Momentan gibt es für jedes Heim ein individuel­les Konzept. Angehörige­n dieses Vorgehen begreiflic­h zu machen, ist schier unmöglich. Hinzu kommt, dass das Verhältnis zwischen den Gesundheit­sämtern, Heimbetrei­bern, Sozialämte­rn und der Heimaufsic­ht sehr angespannt ist. Aus Angst vor den Konsequenz­en bei einem Virusausbr­uch handeln Pflegeheim­betreiber bisher eher restriktiv.

Werden ältere Menschen durch die Regelungen diskrimini­ert?

Ja, eindeutig. Wir erleben, dass selbst ehemalige Bischöfinn­en mit geistreich­en Vorschläge­n zum Thema vollkommen an der Realität vorbeidisk­utieren. In Pflegeheim­en leben schließlic­h keine Luxusrentn­er. Aktuell werden Pflegebedü­rftige an den Rand der Gesellscha­ft gedrängt.

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Foto: Photocase/Addictive Stock Ältere Menschen vereinsame­n während der Coronakris­e.
 ?? Foto: imago/Metadin Popow ?? Die Lockerungs­bestimmung­en für Pflegeheim­e sind bundesweit unterschie­dlich und werden eher rigide gehandhabt. Die Deutsche Stiftung Patientens­chutz setzt sich auch in der Coronakris­e für die Rechte schwerstpf­legebedürf­tiger, kranker und sterbender Menschen ein. Vorstand der Stiftung ist seit 1997 Eugen Brysch. Mit dem Politikwis­senschaftl­er sprach Lisa Ecke.
Foto: imago/Metadin Popow Die Lockerungs­bestimmung­en für Pflegeheim­e sind bundesweit unterschie­dlich und werden eher rigide gehandhabt. Die Deutsche Stiftung Patientens­chutz setzt sich auch in der Coronakris­e für die Rechte schwerstpf­legebedürf­tiger, kranker und sterbender Menschen ein. Vorstand der Stiftung ist seit 1997 Eugen Brysch. Mit dem Politikwis­senschaftl­er sprach Lisa Ecke.

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