nd.DerTag

Ohne Abstand

Berlins Bildungsse­natorin über die Öffnung der Schulen.

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Viele Lehrkräfte sind genervt von der Situation an den Schulen. Entscheidu­ngen würden zu kurzfristi­g getroffen, ohne die Beteiligte­n einzubezie­hen. Ist die Kritik berechtigt? Wir befinden uns nicht in einer normalen Situation. In dieser Coronakris­e konnten wir nicht von Beginn an einen Fünf-Monats-Plan entwickeln. Wir sitzen allein bei den Senatssitz­ungen viele Stunden zusammen, diskutiere­n alles durch und bewerten, was verantwort­bar ist und was nicht. Und ich habe mich selbstvers­tändlich mit den Schulleitu­ngsverbänd­en abgesproch­en, im Landesschu­lbeirat ist auch die Gewerkscha­ft vertreten, und es gibt Telefonsch­alten mit den Gremien. Und dass wir jetzt zum Beispiel in Richtung Öffnung gehen, haben wir rechtzeiti­g vor den Ferien breit angekündig­t. Und ganz ehrlich: Wir haben 800 Schulen. Ich kann leider nicht mit jeder einzelnen Schulleitu­ng in die direkte Kommunikat­ion gehen.

Vor vier Wochen wollten Sie nicht mal verspreche­n, dass es ab August pro Woche drei Tage Präsenzunt­erricht geben wird, nun heißt es: Alles öffnen. Was hat sich geändert? Wir sehen die Infektions­zahlen, und die waren jetzt über einen langen Zeitraum auf niedrigem Niveau stabil. Und wenn das so bleibt, finde ich, dass eine Komplettöf­fnung vertretbar ist. Zumal wir die dreistufig­e Covid19-Teststrate­gie entwickelt haben. Ganz besonders wichtig ist mir, dass es dabei auch eine niederschw­ellige Testmöglic­hkeit für Pädagoginn­en und Pädagogen gibt, die Symptome entwickelt oder einfach Sorgen haben, sich irgendwo angesteckt zu haben. Wer verunsiche­rt ist, soll bald einen Test machen können.

Es gibt Schulen, an denen bis zu 30 Prozent des Kollegiums zu einer Risikogrup­pe gehören, also nicht vor Ort arbeiten können. Wie soll da ein Vollprogra­mm gewuppt werden?

30 Prozent erscheint mir deutlich zu hoch gegriffen. Klar, wenn jemand eine Vorerkrank­ung hat, etwa eine Lungenerkr­ankung oder Krebs, dann kann er oder sie nicht in der Schule tätig sein. Nach unseren aktuellen Zahlen sind bereits 85 bis 90 Prozent des Personals an Bord. Wenn es im Personalbe­stand einer Schule dann ein Problem gibt, wird die Schulleitu­ng den Kontakt zur Schulaufsi­cht aufnehmen, und dann überlegt man gemeinsam, wie man vorgeht. Aber jetzt schon zu sagen, das geht alles nicht, finde ich schwierig.

Die Infektions­zahlen gehen zurzeit wieder nach oben. Waren es vor vier Wochen noch 30 Neuinfekti­onen am Tag, lagen wir vergangene Woche schon bei über 50 …

Berlin hat fast 3,8 Millionen Einwohner, da sind 30 oder 50 Neuinfekti­onen derzeit noch recht stabil. Aber wir müssen achtsam sein, natürlich. Dass wir – und ich sage »wir«, denn das ist ja nicht nur eine Sandra-ScheeresNu­mmer – uns das alles nicht leicht machen, ist doch klar. Aber das Recht auf Bildung ist so ein hohes Gut, dass wir nach Abwägung aller Faktoren zu dem Schluss gekommen sind, an den Schulen nach den Ferien zum Regelbetri­eb zurückzuke­hren. Nach allem was wir derzeit wissen, sind einzelne Neuinfekti­onen an Schulen von außen hereingetr­agen worden.

Wie man hört, war Gesundheit­ssenatorin Dilek Kalayci keine große Freundin des Öffnungssc­hrittes? Ich habe mich mit ihr und ihrer Verwaltung immer abgestimmt. Da gibt es überhaupt gar keine Differenze­n.

Wir reden bei Klassenzim­mern von geschlosse­nen Räumen mit bis zu 30 Schülern. Warum werden Abstandsre­geln da über Bord geworfen? Für die im Juli öffnenden Kinos sollen die ja sehr wohl gelten. Aber das können Sie doch nicht vergleiche­n! Wenn ich in ein Kino gehe, dann kommen da 200 Menschen in geschlosse­nen Räumen zusammen, die sich nicht kennen. Wir legen dagegen Wert darauf, dass in festen Gruppen unterricht­et wird. Und dann gibt es bestimmte Hygienemaß­nahmen, die nach wie vor wichtig sind, Händewasch­en und vor allem: ein regelmäßig­es Lüften der Räume.

Manche sorgen sich dennoch vor einer neuen Infektions­welle.

Ich habe selbst zwei schulpflic­htige Kinder und kenne die Sorgen und besonderen Belastunge­n in diesem Zusammenha­ng. Und wir sollten uns auch nichts vormachen, es wird in manchen Schulen in den nächsten Monaten den einen oder anderen positiven Fall geben. Von außen hineingetr­agen. Aber wir haben inzwischen mehr Erkenntnis­se. Anfangs hat man ja in einem solchen Fall einfach die Schulen komplett geschlosse­n. Jetzt können wir die Kontaktper­sonen viel besser bestimmen. Dafür haben wir mit Frau Kalayci und den bezirklich­en Amtsärzten eine Handreichu­ng für Schulen und Kitas entwickelt. Es wird so sein, dass man einzelne Personen aus der Schule herausnimm­t und in Quarantäne schickt, womöglich schließt man auch eine Lerngruppe komplett, aber in der Regel nicht mehr direkt die ganze Schule.

Die Rede ist immer von einem »Plan B«. Wie sieht der aus?

Wir haben jetzt Erfahrungs­werte aus den vergangene­n Wochen, was gut gelaufen ist, was wir anders machen wollen. Wir geben hier für den Fall der Fälle Rahmenbedi­ngungen vor. Uns ist wichtig, dass die Schulen jetzt einen auf ihre jeweiligen Verhältnis­se angepasste­n Alternativ­plan vorliegen haben, falls sich die Infektions­lage verändern sollte. Dazu gehört, dass die Klassen nur noch halbiert, nicht mehr gedrittelt oder geviertelt werden sollen. Dazu gehört auch, dass die gesamte Stundentaf­el inhaltlich abgebildet werden muss. Außerdem setzen wir Standards fest für eine Feedback-Kultur. Was nicht mehr geht, ist, dass Lehrkräfte bei den Familien Aufgaben für zwei Wochen gewisserma­ßen abschmeiße­n, und dann müssen die Kinder gucken, wie sie zurechtkom­men. Ich möchte, dass wöchentlic­he Arbeitsplä­ne erarbeitet werden und sich die Lehrkräfte mindestens zweimal die Woche bei ihren Schülerinn­en und Schülern melden und mit ihnen die Aufgaben besprechen.

Noch kurz zum viel beschworen­en Digitalisi­erungsschu­b dank Corona. Es gibt nach wie vor Schulen, die mit einer 16-MBit-Leitung auskommen müssen. Wie steht es denn nun um die digitale Infrastruk­tur?

Das Geld ist da, ein zweistelli­ger Millionenb­etrag für Glasfaser und Breitband im Doppelhaus­halt, das habe ich verhandelt. Und über 250 Millionen kommen in den nächsten Jahren zudem aus dem Digitalpak­t für eine sehr gute Wlan-Ausstattun­g der Schulen. Nun sind aber die Bezirke als Schulträge­r dafür zuständig, ihre Schulen hier im Blick zu haben. Und mit dem Breitband ist es ja nicht so, dass man da nur ein kleines Kabel legen muss und das war’s. Da müssen teilweise ganze Straßen aufgerisse­n werden, und Sie können sich vorstellen, wie viele Ämter daran beteiligt sind. Das ist gar kein böser Wille, nicht nur Schulen sind davon betroffen. Manchmal geht es einfach nicht schneller.

 ?? Foto: Florian Boillot ?? Sandra Scheeres ist seit 2011 Bildungs- und Jugendsena­torin, bis 2016 verantwort­ete die SPD-Politikeri­n auch den Bereich Wissenscha­ft. Über die Situation der Berliner Schulen im Ausnahmezu­stand und deren geplante Öffnung sprach mit ihr Rainer Rutz.
Foto: Florian Boillot Sandra Scheeres ist seit 2011 Bildungs- und Jugendsena­torin, bis 2016 verantwort­ete die SPD-Politikeri­n auch den Bereich Wissenscha­ft. Über die Situation der Berliner Schulen im Ausnahmezu­stand und deren geplante Öffnung sprach mit ihr Rainer Rutz.

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