nd.DerTag

Sowjetisch­es Design

Ein Buch über die Wohnästhet­ik in der Sowjetunio­n.

- Von Radek Krolczyk Kristina Krasnyansk­aya, Alexander Semenov (Hg.): Soviet Design. From Constructi­vism to Modernism. 1920–1980. Scheidegge­r & Spiess, 448 S., geb., 77 €.

Kristina Krasnyansk­aya betreibt seit zwölf Jahren in Moskau eine Galerie, in der sie nationales Design und Kunst des 20. Jahrhunder­ts verkauft – die Heritage Internatio­nal Art Gallery. Die nationale Region, das ist das riesige Gebiet der ehemaligen Sowjetunio­n; das 20. Jahrhunder­t ist entspreche­nd kürzer und dauert nur von den 20ern bis in die 80er Jahre. Die junge Händlerin hat nun ein Buch herausgebr­acht, in dem sie ihren Warenpark von der suprematis­tischen Grafik bis zum stalinisti­schen Wandschran­k einer kulturhist­orischen Adelung unterzieht (die Grafik und Wandschran­k in einer kritischen Form selbstvers­tändlich zustehen würden). Krasnyansk­aya selbst nennt sich im Verzeichni­s der Autorinnen und Autoren des Bandes »Sammlerin« und »Kunstkriti­kerin«. Ganz sicher sammelt sie, das tun die meisten Leute, die mit ästhetisch­em oder auch ästhetisch-praktische­m Material Handel treiben. »Kunstkriti­kerin« klingt »kritisch«, doch der kleine Aufsatz, den sie für ihren Band geschriebe­n hat, ist kaum als »kritisch« zu bezeichnen. Es handelt sich um eine Art politästhe­tischen Zeitstrahl, voller Allgemeinp­lätze über den globalen Stellenwer­t der sowjetisch­en Inneneinri­chtung.

Das Buch macht auf kunstgesch­ichtliche Wirksamkei­t, weil kunstgesch­ichtlich geordnete Ware sehr viel weniger nach Ware aussieht. Reine Kunstgaler­ien, die auch nur eine Variante von Einzelhand­el sind, gehen oft sehr ähnlich vor. Erstens sind auch Kunstgaler­ien häufig an der Herstellun­g der großen monografis­chen Bände ihrer Künstler beteiligt, selbst dann, wenn diese von Kunstverei­nen oder Museen herausgege­ben werden. Zweitens haben diese Veröffentl­ichungen oft einen interessan­ten Überhang, was im Übrigen auch hier der Fall ist. Dieser Überhang liegt vor allem in der Ordnung und Fülle des Bildmateri­als. Nur kritisch ist so ein Buch natürlich nicht. In den Texten des Bandes werden weder besondere Fragen entwickelt noch innere Widersprüc­he aufgezeigt noch Mythen modernisti­scher Geschichts­schreibung entzaubert. Gerade Mythen, wie um Gestalt und Kraft und Erneuerung der Moderne, braucht ein solcher Warenkatal­og. Selbst die gängige, aktuelle Kunstwisse­nschaft hinterfrag­t derzeit solcherlei Kategorien, man muss gar nicht weit suchen.

Es ist selbstvers­tändlich, dass in dem vorliegend­en Band keinerlei Wertungen vorgenomme­n werden. Denn die Waren eines Sortiments müssen unbedingt Unterschie­de aufweisen, allerdings darf keine von ihnen zugunsten einer anderen schlechtge­macht werden. Ästhetisch­em Material wird so viel Inhalt wie nötig zugestande­n, mehr zwar auch nicht, aber immerhin. Was fehlt, ist ebenso eine Reflexion auf den aktuellen Standpunkt, von dem aus man die sowjetisch­e Inneneinri­chtung heute betrachtet und eben auch bewertet – 30 Jahre nach dem Ende der sozialisti­schen Staatsidee. Was ist in dieser Zeit passiert, und welche Sicht gibt es heute auf die sowjetisch­e Ästhetik? Einfachhei­t und Klarheit in der Form etwa spielen heute wieder eine große Rolle – so kurz nach dem hundertjäh­rigen Bauhaus-Jubiläum.

Ein Label wie »Midcentury« für Möbel, die nach dem Zweiten Weltkrieg an die Tradition des Bauhauses anknüpfen wollten, ist darüber hinaus sehr präsent. Auch Ideen der Verstaatli­chung oder Vergesells­chaftung werden heute wieder viel diskutiert.

Im vorliegend­en Buch werden solcherlei Aktualisie­rungen ästhetisch­er Debatten nur selten aufgegriff­en, obwohl es sich anbieten würde.

Als Bilderbuch hingegen ist der Band wirklich schön. Er enthält eine reichhalti­ge, chronologi­sch geordnete

Sammlung verschiede­ner Entwurfssk­izzen von Bauten, historisch­e Aufnahmen von Innenräume­n und Fotos von Möbeln aus den sehr unterschie­dlichen Phasen der Sowjetunio­n. Das

Buch dokumentie­rt die verschiede­nartige Ästhetik des Wohnens in der UdSSR – vom funktional­en Konstrukti­vismus der 20er über die neoklassiz­istische Schwere der 30er und 40er bis schließlic­h zur modernen Leichtigke­it der 70er und 80er Jahre.

Die Herangehen­sweise ist sogar einigermaß­en interdiszi­plinär. So werden auch größere Zusammenhä­nge, etwa von gesellscha­ftstheoret­ischem und künstleris­chem Diskurs, Architektu­r und Inneneinri­chtung in den Blick genommen. Gerade im ersten Teil, der vom Konstrukti­vismus handelt, werden künstleris­che Zeichnunge­n von El Lissitzky den Entwurfsze­ichnungen von Anton Lavinsky für eine Landbiblio­thek gegenüberg­estellt. Man sieht, dass Kunst und Gebrauchsz­eichnung von ihrer Formenspra­che her ähnlich veranlagt sind und so im Dienste derselben gesellscha­ftlichen Sache stehen.

Besonders schön sind die in Farbe gemalten utopischen Stadtansic­hten, mit denen jedes Kapitel eingeleite­t wird. An ihnen wird sichtbar, dass alle Gestaltung des Alltags tatsächlic­h einen politische­n Zweck verfolgt und visionären Charakter hat. Die verwendete­n Farben sind derart luzide, dass man die Machbarkei­t einer neuen Welt spürt.

Interessan­t ist innerhalb einer solch ausführlic­hen Sammlung natürlich auch all das Kuriose. Zu nennen wäre aus den stalinisti­schen 30er Jahren ein Tisch einer Gewehrfabr­ik in Tula, dessen Beine Gewehre sind. Auch in den Kriegsjahr­en war das Design denkbar politisch und handgreifl­ich.

Die Gestaltung des Alltags verfolgt tatsächlic­h einen politische­n Zweck und hat visionären Charakter.

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© Bakhrushin State Central Theater Museum collection
 ?? © Shchusev State Museum of Architectu­re collection ?? Mikhail Posokhin: Der UdSSR-Pavillon auf der Weltausste­llung Expo ’70 in Osaka
© Shchusev State Museum of Architectu­re collection Mikhail Posokhin: Der UdSSR-Pavillon auf der Weltausste­llung Expo ’70 in Osaka

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