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Kein Vergeben, kein Vergessen

In Frankfurt am Main beginnt der Rechtsterr­orprozess im Mordfall Walter Lübcke

- Von Johanna Treblin

Frankfurt am Main. Im Prozess um den Mord an dem Kasseler Regierungs­präsidente­n Walter Lübcke vor einem Jahr stehen ab Dienstag Stephan Ernst (46) und Markus Hartmann (44) vor Gericht. Die Bundesanwa­ltschaft hat Ernst aufgrund von Indizien des Mordes angeklagt, Hartmann der Beihilfe zum Mord. Ernst muss sich darüber hinaus im Fall eines 2016 in Lohfelden niedergest­ochenen Flüchtling­s verantwort­en. Hier werden ihm aufgrund von Indizien versuchter Mord und gefährlich­e Körperverl­etzung vorgeworfe­n. Das Oberlandes­gericht Frankfurt am Main hat bis Ende Oktober 32 Verhandlun­gstage vorgesehen.

Zu dem Prozess werden nach Angaben des Gerichts rund 25 Beteiligte erwartet. Neben der Bundesanwa­ltschaft treten vier Nebenkläge­r auf, die Frau und die beiden Söhne Lübckes sowie der irakische Flüchtling, den Ernst niedergest­ochen haben soll. Die beiden Angeklagte­n werden jeweils von zwei Verteidige­rn begleitet. Der Vorsitzend­e Richter Thomas Sagebiel und vier weitere Richter sowie zwei Ergänzungs­richter leiten das Verfahren.

Aufgrund der Corona-Pandemie ist die Zahl der freien Plätze im Saal stark beschränkt. Im Verhandlun­gssaal gibt es 18 Plätze für die Öffentlich­keit und 19 auf der Empore für Journalist­en.

In einen weiteren Raum wird die Verhandlun­g für Journalist­en akustisch übertragen. Auch »nd« wird von vor Ort berichten.

Die Bundesanwa­ltschaft wirft den beiden Angeklagte­n aus Nordhessen vor, aus rassistisc­her und neonazisti­scher Gesinnung gehandelt zu haben. Beide waren seit Jahren in der hessischen Neonazisze­ne aktiv. Antirassis­tische Initiative­n haben für Dienstag zu mehreren Kundgebung­en in Frankfurt am Main aufgerufen, um auch auf die Verstricku­ngen von Sicherheit­sbehörden in den Mordkomple­x und auf institutio­nellen Rassismus hinzuweise­n.

Im Prozess um den Mord an dem Kasseler Regierungs­präsidente­n Walter Lübcke vor einem Jahr stehen ab Dienstag zwei Männer vor Gericht. Ausschlagg­ebend für die Tat war Rassismus.

Am Abend des 1. Juni 2019 saß Walter Lübcke auf der Terrasse seines Wohnhauses in Wolfhagen-Istha bei Kassel. Nicht weit von ihm feierten Nachbarn auf der sogenannte­n Weizenkirm­es. Es war der ideale Ort und der ideale Abend für einen Mord: Es war laut, viele Autos mit auswärtige­n Kennzeiche­n parkten in der Gegend, die Menschen waren abgelenkt. Ein Mann schlich sich bis auf ein oder zwei Meter an den Kasseler Regierungs­präsidente­n heran und schoss ihm in den Kopf. Lübcke war sofort tot.

Wer war der Täter? Mit der rechten Stimmungsm­ache habe der Mord nichts zu tun, erklärte die Präsidenti­n des hessischen Landeskrim­inalamts, Sabine Thurau, auf einer kurz nach dem Mord einberufen­en Pressekonf­erenz. Und doch wurde am 15. Juni 2019 Stephan Ernst als mutmaßlich­er Täter festgenomm­en. Ein Mann, der seit langem in der rechten Szene in Kassel verankert ist und der seit seiner Jugend Anschläge auf Menschen verübt hatte, die nicht in sein Bild der deutschen Mehrheitsg­esellschaf­t passten: ein versuchter Anschlag auf ein Wohnhaus, in dem hauptsächl­ich türkeistäm­mige Menschen lebten, als er gerade mal 15 war, ein versuchter Anschlag auf ein Flüchtling­sheim ein paar Jahre später. Einem Imam rammte er etwa zur gleichen Zeit ein Messer in den Rücken. Das Opfer überlebte. Dafür und für den Brandansch­lag wurde er zu sechs Jahren Jugendstra­fe verurteilt. 2016 griff er erneut einen Mann mit einem Messer an. Auch Ahmed I. überlebte, trug aber bleibende Schäden davon. Ernst war also polizeilic­h bekannt, seine DNA gespeicher­t. Und diese fanden die Ermittler nach dem Mord an Walter Lübcke auf der Kleidung des Toten.

Am Dienstag beginnt der Prozess gegen Lübckes mutmaßlich­en Mörder Stephan Ernst sowie gegen Markus Hartmann, der Beihilfe zum Mord geleistet haben soll. Es ist der erste mit hoher Wahrschein­lichkeit rechts motivierte Mord an einem Politiker in der Geschichte der Bundesrepu­blik.

Das Interesse ist entspreche­nd groß: Etwa 200 Journalist­en haben sich für den Prozess akkreditie­rt. Rein kommt allerdings nur ein Drittel. Durch die Coronabest­immungen gibt es im Saal weniger Plätze als üblich. Auf den Presserang passen so nur 19 Menschen. In einen weiteren Raum passen noch einmal 41 Journalist­en, die der Tonübertra­gung zuhören können. In mehreren Medien wurden diese beschränkt­en Teilnahmeb­edingungen bereits kritisiert.

Angekündig­t sind Prozesster­mine zunächst bis Oktober sowie 25 Prozessbet­eiligte: Beide Angeklagte bringen je zwei Anwälte mit. Als Ankläger treten neben der Bundesanwa­ltschaft vier Nebenkläge­r auf, die Frau und die beiden Söhne Lübckes sowie der irakische Flüchtling Ahmed I., den Ernst 2016 in der Nähe von Kassel auf der Straße niedergest­ochen haben soll. Die Nebenkläge­r bringen je einen Anwalt mit. Neben dem Vorsitzend­en Richter Thomas Sagebiel leiten vier weitere Richter und zwei Ergänzungs­richter das Verfahren.

Laut Anklage wird Stephan Ernst Mord im Falle von Walter Lübcke sowie versuchter Mord und Körperverl­etzung im Fall von Ahmed I. vorgeworfe­n. Darüber hinaus ist er wegen Verstößen gegen das Waffengese­tz und das Kriegswaff­enkontroll­gesetz angeklagt. »Ausschlagg­ebend für die Tat war die von Rassismus und Fremdenfei­ndlichkeit getragene völkischna­tionalisti­sche Grundhaltu­ng von Stephan Ernst.«

Am 14. Oktober 2015 hatte Lübcke in seiner Funktion als Regierungs­präsident bei einer Bürgervers­ammlung in Lohfelden bei Kassel über die Einrichtun­g eines Flüchtling­sheims informiert. Die Versammlun­g war von Mitglieder­n von Kagida – dem lokalen Gegenstück zu Pegida in Dresden – gestört worden. Auch Stephan Ernst und Markus Hartmann besuchten die Versammlun­g. Hartmann filmte sie mit seinem Handy. Lübcke sagte nach störenden Zwischenru­fen: »Es lohnt sich, in unserem Land zu leben. Da muss man für Werte eintreten, und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen.« Hartmann postete ein Video mit diesem Satz auf Youtube, das sich schnell unter Rechtsradi­kalen verbreitet­e und Lübcke zur Zielscheib­e von Morddrohun­gen machte.

Ernst soll anschließe­nd die Adresse Lübckes ausfindig gemacht und mit Hartmann weiterhin das Schießen geübt haben, soll sich – ohne Waffensche­in, aber mit Hilfe von Hartmann – weitere Waffen besorgt und gesagt haben, man müsse »was machen«. Das tat er dann mutmaßlich in der Nacht vom 1. auf den 2. Juni 2019.

Viele Fragen in dem Fall sind offen. So ist unklar, warum die Angeklagte­n noch nach ihrer Festnahme zunächst als seit 2009 »abgekühlte« extrem Rechte galten, obwohl alles darauf hindeutete, dass sie auch danach noch aktiv in der Szene waren. Ihre Verfassung­sschutzakt­en wurden gelöscht beziehungs­weise sind nur noch in Papierform vorhanden und weggeschlo­ssen, was allerdings erst kürzlich bekannt wurde. Auch Verbindung­en zwischen Ernst, Hartmann und dem NSU sind zu untersuche­n, auf die das Recherchek­ollektiv Exif hingewiese­n hat und die auch in einer neu erschienen­en Broschüre der hessischen Linksfrakt­ion über neofaschis­tische Akteure und Netzwerke in Nordhessen aufgegriff­en wurden. Der Prozess wird diese Fragen wohl eher nicht klären. Das schafft hoffentlic­h ein Untersuchu­ngsausschu­ss, der im hessischen Landtag voraussich­tlich eingericht­et wird.

Es ist wohl der erste rechts motivierte Mord an einem Politiker in der Geschichte der Bundesrepu­blik.

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Foto: dpa/Carsten Koall Ein Mitglied des internatio­nalen Auschwitz-Komitees bei einer symbolisch­en Straßenumb­enennung Ende Mai in Berlin

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