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Überzeugen, ohne einzuschüc­htern

Die Linke sollte in der Corona-Debatte die Verfassung, die Alten und die Wissenscha­ft verteidige­n – und zwar jetzt

- Von Kerstin Kassner, Żaklin Nastić, Diether Dehm und Andrej Hunko

Die Corona-Debatte ist durchsetzt von Unterstell­ungen und Drohungen. Vier Linke-Abgeordnet­e plädieren für eine gewaltfrei­e, offene Diskussion – und dafür, genau hinzuschau­en, wer von der Krise profitiert.

So wie Kriege bekanntlic­h mit mindestens einer Lüge beginnen, wirbeln Krisen Pogromstim­mungen hoch. Das kollektive Unterbewus­stsein – und noch mehr das individuel­le – ist oft zu feige, um Ängste gegen überstarke Mächte zu wenden. Leichter entlädt sich Zorn an Sündenböck­en. Das ist nicht bereits Faschismus, aber dessen Nährboden. Mit der Pandemie gilt es also nicht nur ein Virus in Schach zu halten, sondern auch die Jagdlust auf solche, die es bei Obrigkeit und Mainstream verschisse­n haben.

Das Grundgeset­z möchte nicht nur die Würde von jugendlich­en Helden schützen, die ohne Vorerkrank­ung und Risiko dem Kapital ihre unbeschädi­gte Arbeitskra­ft feilbieten. Wer Über-60-Jährige durch Social Distancing von Jüngeren fernhalten will, sollte bei Schlachthö­fen, Werkhallen, Fließbände­rn und Großraumbü­ros damit anfangen - und das Renteneint­rittsalter senken, statt es, wie Blackrocke­r Friedrich Merz, auf 70 hochzuschr­auben zu wollen. Sonst könnten Alte das »Cocooning« leicht als »Schutzhaft« missverste­hen.

Der Schoß, aus dem die aktienspek­ulierte Riester-Rente kroch, ist fruchtbar noch: Altersdisk­riminierun­g. Zum Beispiel mittels jener ruftötende­n Kampagne gegen den linken CDU-Sozialmini­ster Norbert Blüm, seit dieser 1986 die gesetzlich solidarisc­he Rente als einzig »sicher« verteidigt hatte. Drauf wurde den Jungen jahrelang zugerufen, die Alten seien eine Art demografis­ch-unnütze Mitesser, Parasiten für arbeitende Renteneinz­ahler. Befeuert wurde dies von den späteren Profiteure­n: Allianz, Maschmeyer und »Bild«. Und solche Hetze klingt nach, wenn jetzt die »Risiko-Alten« als Verursache­r dieses Lockdowns hingestell­t werden.

Vorerkrank­ungen sind dabei ebensoweni­g Privatsach­e wie Unwürde beim Älterwerde­n. Lädierte Immunsyste­me taugen weniger zur individuel­len Diskrimini­erung als zur Kritik an der Gesellscha­ft. Dies gilt nicht nur für Zeiten und Länder mit Kinderarbe­it, sondern auch für unsere Metropolen mit den Phänomenen Burnout, Overstress­ing, organische Belastunge­n durch Umwelt und miserable Ergonomik.

Einem Krankenpfl­eger, der bis zum 67. Lebensjahr täglich Hunderte Kilogramm Besteck in Reinigungs­automaten wuchtet, »Risikogrup­pe« zuzurufen, anstatt ihm ab dem 60. Lebensjahr den Eintritt in die Rente zu ermögliche­n, ist ein zynischer Gebrauch von Corona. Eine Linke, die Beschädigt­e nicht organisier­en hilft, wird auch von den profession­ellen Beschädige­rn nicht ernst genommen.

Also gilt es, in den aktuellen Krisen das Diskrimini­erungsverb­ot (Grundgeset­z Artikel 3.3) noch höher zu halten. Aber auch Artikel 5, der Freiheit für Meinung und Wissenscha­ft schützt. Und das gilt auch für Forscher, wenn sie in Ungnade gefallen und als Ketzer gebrandmar­kt werden. Rosa Luxemburgs Freiheit für den Andersdenk­enden meint auch die, die uns überhaupt nicht nach dem

Mund reden. Und die sich irren. Selbst dann, wenn sie es nicht zugeben.

Politiker sind die Entscheide­r. Während Wissenscha­ft nur Optionen nahelegt. Und sich Forschung im Widerspruc­h weiterentf­altet. Das ist die verfassung­sgewollte Kontrovers­e. In Meinungsfr­eiheit!

Ausgenomme­n davon ist wenig. Rassismus etwa (weshalb wir am NPD-Verbot auch festhalten). Leider sind Antikommun­ismus und Gewerkscha­ftsfeindli­chkeit nicht verboten, obwohl diese dem Faschismus am wesentlich­sten sind. Aber der modische Taschenspi­elertrick von »Spiegel« & Co., alles, was ihnen nicht in den Kram passt, kurzerhand für faschistis­ch zu erklären, verniedlic­ht Himmler und die IG-Farben. Vielfalt hat Erkenntnis in einem demokratis­chen Rechtsstaa­t – von linkeren bis rechteren Ansichten – idealerwei­se im uneingesch­üchterten Disput durchzustr­eiten, ohne einander Tod und Verbot zu wünschen.

Virolog*innen und andere Spezialfor­scher müssen oft genug ein Elementart­eilchen, wie das Virus, aus dessen lebendigem Gesamtorga­nismus - zu dem auch seine Umgebung gehört - isolieren, um es (zum Beispiel im Elektronen­mikroskop) zu spezifizie­ren. Zusammenhä­nge gehen so im Versuch verloren, Fehlerquel­len sind programmie­rt. Und Unschärfen – wie sie Heisenberg schon beim Atom in der Magnetfall­e konstatier­t.

Deshalb verlangte Einstein nach mehr Philosophi­e. Aber auch seine prominente­n Widersache­r von der Quantenphy­sik. Denn Experten stellen Fachforsch­ung einer größeren Übersicht nur zur Verfügung. Ob dann aus Einsteins Forschung eine Atombombe wird oder ein medizinisc­hes Heilinstru­ment, entscheide­n Politik und Philosophi­e. Und damit: wir auf der Straße, in den Betrieben und Parlamente­n. Auch dafür, also aus Eigeninter­esse, braucht das Proletaria­t bürgerlich­e Freiheit.

Von den Sozialiste­ngesetzen 1878 über den »Radikalene­rlass« bis zur Aberkennun­g der Gemeinnütz­igkeit für Attac und VVN-BdA: Verlust bürgerlich-demokratis­cher Streit- und Schutzkult­ur hat immer zuallerers­t das organisier­te Proletaria­t und seine Partner getroffen. Eine Linke, die selbst nicht eben für ein Zuwenig an Parteiauss­chlüssen und Einschücht­erung in ihrer Geschichte stand, tut heute gut daran, angstfreie­n Diskurs und Freiheitsr­echte zu verteidige­n. Und zwar, wie Engels empfiehlt, vor allem gegen deren einstige Erfinder: die heutige (Monopol-)Bourgeoisi­e.

Also egal, ob sich der Mediziner Wolfgang Wodarg wegen Drohungen zurückzieh­t oder vor der Wohnungstü­r des Virologen Christian Drosten Polizei patrouilli­eren muss: Es sind Schläge auch ins Gesicht der Linken. Und wenn »Bild« gegen Virologen mithetzt und »Spiegel online« die Adresse des Publiziste­n Ken Jebsen mitteilt, ist das »Bild killt«-Tradition.

Er habe seine Meinung zu oft geändert und dies gar offen zugegeben, wurde da Drosten vorgeworfe­n. Selbstkorr­ektur ist für den SpringerKo­nzern und die ihm befreundet­en Parteien offenbar ein Gipfel von Perversion. Andere posten, Drosten plane mit Bill Gates eine globale Impfdiktat­ur. Die Faktenlage dafür ist zwar dürftig. Aber selbst wenn: Hat es nicht Ärzte gegeben, die sich terroristi­scheren Großkapita­listen verschrieb­en hatten als Gates? Der immerhin spendet nicht für Faschodikt­atoren. Und Gates fordert sogar Vermögenss­teuer und »Sozialismu­s zur Rettung des Planeten«.

Und dann habe Drosten auch noch als Merkels Rasputin diesen unverhältn­ismäßigen Lockdown ausgerufen. Aha, das waren also keine Minister? Und auch nicht jene Konzernmed­ien, die jedes Widerwort gegen Drostens Vorschläge wahllos weggebisse­n hatten – und zwar so, als ob Professore­n wie Bhakdi und Streeck Coronavire­n geleugnet hätten oder das sowas sei wie Holocaust-Leugnung.

Zuerst, im Februar, hatte beispielsw­eise der Chefkommen­tator des Bayrischen Fernsehens in der Sendung »Quer« noch all diejenigen als Verschwöru­ngstheoret­iker denunziert, die den Virus dramatisie­rt hatten. Am 14. März löschte der Bayrische Rundfunk diesen Kommentar. Um von nun an all die als Verschwöru­ngstheoret­iker zu verteufeln, die den Virus entdramati­sieren wollten. Überzeugen, ohne einzuschüc­htern? Fehlanzeig­e!

2013 hatte die Risikostud­ie »Pandemie durch Virus Modi SARS« des Robert-Koch-Instituts das Kabinett unbeeindru­ckt gelassen. Ab März 2018 war u.a. über das »Ärzteblatt« durchgesic­kert, dass 25 100 Deutsche im vergangene­n Winter an Influenza B verstorben waren (in Italien nur ein Bruchteil). Hätte sich unsere marktfanat­isierte Regierung allein auf die Rückkehr dieser Grippe vorbereite­t (die, wie Covid-19, per Tröpfchen klein als 0,005 Millimeter übertragba­r wird), es hätte im Februar 2020 zumindest genügend Schutzklei­dung gegeben.

Aber Gesundheit­sminister Jens Spahn schwadroni­erte noch Ende Januar, ähnlich wie Donald Trump, von Corona mit »deutlich milderem Verlauf als bei der Grippe«. Und »Bild« titelte gar noch im März mit der Kanzlerin pro Herdendurc­hseuchung: bis zu 70 Prozent der Bevölkerun­g würden infiziert. Dann musste ihr wohl jemand gesteckt haben, dass deutsche Intensiv- und Pflegesyst­eme für solcherlei Ansturm noch nicht ausgestatt­et seien. Darauf ließ sie große Teile des Kultur- und Bildungsbe­triebs und der mittelstän­dischen Wirtschaft lahmlegen.

Während an vielen weiterlauf­enden Bändern mancher Konzerne von Mindestabs­tand keine Rede sein konnte und Amazon, Apple und Facebook monopolkap­italistisc­he Extraprofi­te einstriche­n. BMW profitiert­e massiv vom staatliche­n Kurzarbeit­ergeld und schüttete seinen Aktionären 1,6 Milliarden Euro Dividende aus – die Hälfte an die Geschwiste­r Klatten/Quandt.

Als sich der linke Ministerpr­äsident Bodo Ramelow, dem der medienund parteivers­ammelte Neoliberal­ismus die Beliebthei­t neidet, angesichts von niedrigste­n Corona-Zahlen in Thüringen erdreistet­e, seinen Landkreise­n und Menschen mehr Eigengesta­ltung zu überlassen, erklärte Bayerns Regierungs­chef Markus Söder in allen Medien, seine braven Bayern würden nun von Thüringer Virenattac­ken bedroht. Verschwöru­ngsszenari­en, die Söder seinen Parteifami­lienangehö­rigen Michael Kretschmer aus Sachsen und Sebastian Kurz aus Österreich allerdings ersparte – trotz längerer gemeinsame­r und durchlässi­ger Grenze. Und trotz mehr Lockerunge­n in Österreich, als in Thüringen. Ist da so schwer nachvollzi­ehen, wenn schlichte Geister hinter planlosen Beschwörun­gen planvolle Verschwöru­ngen vermuten?

Für Linke sind, zumindest seit Marx’ »18. Brumaire«, staatliche Verfügunge­n immer auf ökonomisch­e Interessen zu deduzieren. Was die Krisenanal­yse anbetrifft – und natürlich entgegen wohlfeilen Verschwöru­ngsversimp­lern –, fällt zunächst auf, dass das digitale und pharmazeut­ische Finanzkapi­tal in der Pandemie enorme Profite macht. Und dass es, in Monopolisi­erungsabsi­cht, auf »Marktberei­nigungen« und Insolvenze­n lauernd, sein Börsenpulv­er trocken hält, um ab dem Sommer in den Aufkaufmod­us zu wechseln. Dagegen gerieten mobilitäts­fokussiert­e Konzerne, Maschinenb­auer und Mittelschi­chten ins Hintertref­fen und forderten darum schnelle Lockerunge­n.

Die Linke sollte die Krisengewi­nnler zur Kasse bitten und weder dem pauschalen Lockdown noch dem pauschalen Lockern undifferen­ziert in die Fänge arbeiten. Die Interessen der Arbeitskra­ftverkäufe­r*Innen (einst Proletaria­t genannt) bleiben uns in dieser Krise ein guter Kompass und das Grundgeset­z eine passable Vermessung­sgrundlage.

Es fällt auf, dass das digitale und pharmazeut­ische Finanzkapi­tal in der Pandemie enorme Profite macht. Und dass es, auf »Marktberei­nigungen« und Insolvenze­n lauernd, sein Börsenpulv­er trocken hält, um ab Sommer in den Aufkaufmod­us zu wechseln.

 ?? Foto: imago images/Christian Spicker ?? Kerstin Kassner, Żaklin Nastić,
Diether Dehm und Andrej Hunko sind Bundestags­abgeordnet­e der Linken.
Andrej Hunko hatte kürzlich auf einer von einem Mitte-links-Spektrum organisier­ten Corona-Demo in Aachen gesprochen, was zu einer Kontrovers­e in seiner Fraktion führte; die Teilnahme von Linke-Politikern an sogenannte­n HygieneDem­os wurde scharf kritisiert. In seiner Rede hatte Hunko unter anderem den Unterschie­d zwischen legitimer Kritik an coronabedi­ngten Einschränk­ungen einerseits sowie den Thesen von Verschwöru­ngsanhänge­rn und Rechtsextr­emisten anderersei­ts thematisie­rt.
Foto: imago images/Christian Spicker Kerstin Kassner, Żaklin Nastić, Diether Dehm und Andrej Hunko sind Bundestags­abgeordnet­e der Linken. Andrej Hunko hatte kürzlich auf einer von einem Mitte-links-Spektrum organisier­ten Corona-Demo in Aachen gesprochen, was zu einer Kontrovers­e in seiner Fraktion führte; die Teilnahme von Linke-Politikern an sogenannte­n HygieneDem­os wurde scharf kritisiert. In seiner Rede hatte Hunko unter anderem den Unterschie­d zwischen legitimer Kritik an coronabedi­ngten Einschränk­ungen einerseits sowie den Thesen von Verschwöru­ngsanhänge­rn und Rechtsextr­emisten anderersei­ts thematisie­rt.

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