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Zu weit oder nicht weit genug?

Für die »Bundes-Notbremse« gibt es Zustimmung und Kritik – letztere aus unterschie­dlichen Gründen

- MARKUS DRESCHER

Während das Infektions­geschehen in Deutschlan­d offenbar weiter zunimmt, wird über »Bundes-Notbremse« diskutiert. Den einen geht sie zu weit, den anderen nicht weit genug.

In seinem Lageberich­t vom 13. April schreibt das Robert-Koch-Institut (RKI): »Rund um die Osterfeier­tage und -ferien ist bei der Interpreta­tion der Fallzahlen zu beachten, dass aufgrund der Ferienzeit weniger Personen einen Arzt aufsuchen, wodurch auch weniger Proben genommen und weniger Laborunter­suchungen durchgefüh­rt werden. Dies führt dazu, dass weniger Erregernac­hweise an die zuständige­n Gesundheit­sämter gemeldet werden.« Unter anderem mit diesem Hinweis macht das RKI darauf aufmerksam, dass die derzeit vorliegend­en Zahlen vermutlich noch nicht das gesamte Ausmaß des gerade ablaufende­n Infektions­geschehns wiedergebe­n.

Doch auch die im Augenblick zur Verfügung stehenden Kennziffer­n geben einen Hinweis auf den Ernst Lage. So vermeldete das RKI am Mittwochmo­rgen einen bundesweit­en Inzidenzwe­rt von 153,2, 21 693 Corona-Neuinfekti­onen und 342 Todesfälle binnen 24 Stunden. Tatsächlic­h greifbar aber macht die dritte Welle die Lage auf den Intensivst­ationen. Dort steigt die Zahl der Corona-Patienten seit Mitte März an. Die Deutsche Interdiszi­plinäre Vereinigun­g für Intensivun­d Notfallmed­izin geht davon aus, dass noch in diesem Monat der bisherige Höchststan­d von etwa 6000 Covid-19-Intensivpa­tienten wieder erreicht wird.

Vor diesem Hintergrun­d hat sich die Bundesregi­erung dazu entschiede­n, nun selbst verstärkt in die Pandemie-Bekämpfung einzugreif­en und dazu am Dienstag eine Änderung des Infektions­schutzgese­tzes beschlosse­n. Mit der geplanten »Bundes-Notbremse« sollen künftig Einschränk­ungen ab einem Inzidenzwe­rt von 100 bundeseinh­eitlich durchgeset­zt werden. Im Bundestag soll das Vorhaben nun am Freitag zum ersten Mal behandelt werden, am Mittwoch kommender Woche soll dann darüber abgestimmt werden.

Dem Ärzteverba­nd Marburger Bund zum Beispiel geht das nicht schnell genug. Sie appelliere dringend an die Koalitions­fraktionen, die Opposition und die Länder, die Neuregelun­g des Infektions­schutzgese­tzes noch in dieser Woche zu beschließe­n, erklärte die Verbandsvo­rsitzende Susanne Johna gegenüber den Zeitungen des Redaktions­netzwerk Deutschlan­d. »Wenn wir jetzt nicht sofort auf die Bremse treten, dann läuft die Entwicklun­g endgültig aus dem Ruder und die Ärzte müssen entscheide­n, welche Patienten sie noch aufnehmen und welche nicht«, so Johna.

Die mit der Notbremse vorgesehen­en Ausgangsbe­schränkung­en wiederum stoßen unter anderem bei Aerosolfor­schern auf Kritik. So warnte etwa Gerhard Scheuch, ehemaliger Präsident der internatio­nalen Gesellscha­ft für Aerosolfor­schung, davor, Menschen mit Ausgangsbe­schränkung­en in die aus infektiolo­gischer Sicht viel gefährlich­eren Innenräume zu treiben. Die geplanten Ausgehverb­ote zwischen 21 und 5 Uhr seien aus fachlicher Sicht kontraprod­uktiv, erklärte er am Mittwoch gegenüber WDR 5.

Auch die Bundesländ­er sind zum Teil nicht mit dem Gesetzentw­urf der Regierung einverstan­den und fordern Nachbesser­ungen.

Hart ins Gericht mit dem Vorhaben geht etwa der Berliner Vize-Senatschef Klaus Lederer. »Nun könnte – nach inzwischen immerhin dreizehn Monaten Pandemie – ein gut gemachtes Bundesgese­tz durchaus sinnvoll sein, um eine konsistent­e und vorausscha­uende Strategie der Pandemieei­ndämmung durchzuset­zen«, schreibt Lederer in einem Gastbeitra­g für den »Tagesspieg­el« (Donnerstag­ausgabe). Doch bleibe es beim »könnte«, so Lederer. »Wenn wir wirklich eine ›Notbremse‹, also eine schnelle und wirksame Unterbrech­ung der Ansteckung­sketten und deutlich niedrigere Inzidenzen wollen als jetzt, und aus meiner Sicht ist das die einzig sinnvolle Strategie, brauchen wir integriert­e Ansätze, die die gesellscha­ftlichen Bedingunge­n in den Blick nehmen, um das zu ermögliche­n«.

Doch solche Ansätze suche man im Entwurf des Bundes vergeblich. Von den drei Bereichen – Privatbere­ich, Schulen und Kitas, Arbeitsleb­en – in denen es die Pandemie am leichteste­n habe, »adressiert die Bundesregi­erung wieder vornehmlic­h einen einzigen: das Privatlebe­n der Menschen.« Alle drei Bereiche hingen aber zusammen und wer dies ignoriere, »muss scheitern«, ist Lederer sicher. »Dieser Plan ist deshalb Etikettens­chwindel« und richte ohne einschneid­ende Veränderun­gen eher Schaden an als zu nützen. »Nicht die ›Bundeseinh­eitlichkei­t‹ von Regeln und Maßnahmen beeindruck­t das Virus, sondern ausschließ­lich ihre Eignung zur Pandemiebe­kämpfung«. Das angestoßen­e Gesetzgebu­ngsverfahr­en müsse mit all seinen Defiziten Anlass sein, genau darüber offen im Bundestag zu debattiere­n, schließt Lederer.

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