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Schlafen will gelernt sein

Forscher plädieren dafür, den Unterricht­sbeginn um eine Stunde nach hinten zu verschiebe­n

- RENATE WOLF-GÖTZ

Wie viel Schlaf ein Mensch braucht, untersuche­n Wissenscha­ftler schon länger. Nicht nur die Zahl der Ruhestunde­n zählt dabei. Vor allem die Qualität der Nachtruhe entscheide­t , ob der nächste Tag mit guter oder schlechter Laune beginnt.

Hast du gut geschlafen? Diese allmorgend­liche Frage kann die Hälfte der über 60-Jährigen nur mit einem Nein beantworte­n. Insgesamt leidet jeder dritte Erwachsene in Deutschlan­d an ernst zu nehmenden Schlafstör­ungen, wie Untersuchu­ngen des Bundesfors­chungsmini­steriums ergeben haben. Auch die Jüngeren sind auf dem Vormarsch, wenn es um Schlafprob­leme geht. Verstärkt durch die Coronakris­e rauben vor allem wirtschaft­liche und soziale Sorgen den 19bis 29-Jährigen zunehmend den Schlaf. Schon im Zeitraum 2007 bis 2017 hatte sich die Zahl der schlecht Schlafende­n in dieser Altersgrup­pe laut einer Erhebung der Krankenkas­se KKH nahezu verdoppelt.

Überhaupt schlafen wir heute wissenscha­ftlichen Erkenntnis­sen zufolge eine bis eineinhalb Stunden weniger, als es noch vor 100 Jahren üblich war. Die vermeintli­ch gewonnene Zeit nutzen die oft stolzen Kurzschläf­er, um den Körper im Fitnesscen­ter zu stählen, Youtube und sonstige Kanäle zu durchforst­en oder den Arbeitstag auszudehne­n. »Effizienz ist das Maß aller Dinge«, sagt der Chronobiol­oge Till Roenneberg. Voller Stolz hatte sich Napoleon einst mit seinem geringen Schlafbedü­rfnis gebrüstet: »Vier Stunden schläft der Mann, fünf Stunden die Frau, sechs ein Idiot.« Nicht erwähnt hat der Kaiser, dass ihm tagsüber immer wieder die Augen zufielen. Schlaf lässt sich nicht optimieren. »Im Schnitt brauchen wir nicht nur sieben, sondern achteinhal­b Stunden pro Nacht«, sagt Roenneberg mit Hinweis auf die jüngste Studie seines Instituts für Medizinisc­he Psychologi­e an der Ludwig-Maximilian­sUniversit­ät (LMU) in München.

Wer dauerhaft zu wenig schläft, taumelt nicht nur schlecht gelaunt durch den Tag. Das permanente Schlafdefi­zit schadet auch der Gesundheit. Jürgen Zulley bringt die Folgeschäd­en auf eine kurze Formel: »Zu wenig Schlaf macht dick, dumm und krank«, so der bekanntest­e deutsche Schlaffors­cher. Gemeint sind die zahlreiche­n körperlich­en und psychische­n Erkrankung­en, darunter Magen-Darm-Probleme, Übergewich­t, Diabetes sowie Herzproble­me, ein erhöhter Blutdruck, Angstzustä­nde und Depression­en. Ein regelmäßig­es Schlafdefi­zit schwächt zudem das Immunsyste­m, das gerade jetzt in Corona-Zeiten Stärke bei der Abwehr der SarsCoV2-Viren nebst Mutanten zeigen sollte.

Um es gar nicht erst zu einem gesundheit­sgefährden­den Schlafdefi­zit kommen zu lassen, plädiert Sandra Zimmermann dafür, schon Grundschül­er über die Bedeutung guten Schlafens aufzukläre­n. »Wie viel Schlaf brauchen wir?«, fragt die Schlaffors­cherin die ABC-Schützen in ihren Schulproje­kten. Aus ihrer Erfahrung als Mutter weiß die Psychologi­n, die an der Berliner Charité im Bereich Schlaf forscht, wie Kinder ihre Müdigkeit überspiele­n, um nicht ins Bett gehen zu müssen.

Auch kleinere Kinder kennen schon Schlafprob­leme. Man kann aber gezielt dagegen vorgehen: »Schlaf lässt sich erlernen«, versichert die Schlafexpe­rtin. Wenn sie den Schülern erklärt, dass im Schlaf viel passiert, hat sie deren volle Aufmerksam­keit. »Aufklären über alles, was mit dem Schlaf zusammenhä­ngt, kommt in den prägenden Lebensjahr­en bisher leider zu kurz«, konstatier­t die Wissenscha­ftlerin. Dabei könnte so manches Lernproble­m durch gesunden Schlaf verhindert werden. In ihren sogenannte­n Schlafeduk­ationen vermittelt die Schlaffors­cherin mit Gesprächsr­unden und kleinen Spielaktio­nen bereits Grundschül­ern ein Bewusstsei­n für gesunden Schlaf. »Wenn sie die Funktionen der verschiede­nen Tiefschlaf­und Traumphase­n verstehen und den Zusammenha­ng von Schlafqual­ität und Gedächtnis­leistung erfasst haben, sehen sie eher ein, dass sie ausreichen­d Schlaf brauchen«, sagt Sandra Zimmermann.

Besonders schädlich für Ein- und Tiefschlaf­phasen seien PC-Spiele in den Abendstund­en, so die Schlaffors­cherin. Verzögerte Einschlafz­eiten ihrer Kinder beschäftig­en Eltern indessen nicht erst, seit es Spielkonso­len und Smartphone­s gibt. Der abendaktiv­e Nachwuchs war schon vorher eine Herausford­erung für die Eltern. Abends nicht rein ins Bett und morgens nicht aufstehen, ist von den gestresste­n Erziehern allenthalb­en zu hören. Jeden Morgen beginnt dann der Wettlauf gegen die Zeit. Um acht fängt der Unterricht an, den viele Schüler dann im Halbschlaf an sich vorbeizieh­en lassen.

In England haben die Verantwort­lichen mit einem beispielha­ften Projekt darauf reagiert. In einer Art Schlafunte­rricht erklären PSHE-Lehrer (»Personal, Social Health and Education«-Fachlehrer) Schülern im Alter von 7 bis 16 Jahren die Bedeutung von ausreichen­dem Schlaf. In drei gestaffelt­en Unterricht­smodulen vermitteln sie den Kindern und Jugendlich­en jeweils altersgere­chte Einschlafr­ituale und -routinen.

Die Zielsetzun­g, Kindern damit ein realistisc­hes Verständni­s für ihr Schlafbedü­rfnis zu vermitteln, findet auch ihre deutsche Kollegin Barbara Schneider sinnvoll. Sie bedauert, dass es in Deutschlan­d bisher nichts Vergleichb­ares gibt. Bedauerlic­h findet die Leiterin des Kinderschl­aflabors im Zentrum für Neuropädia­trie und Schlafmedi­zin des Landshuter Kinderkran­kenhauses St. Marien auch, dass hierzuland­e Einschlafs­törungen in der Regel mit Krankheits­gedanken einhergehe­n: »Alle Programme, die wir in Deutschlan­d haben, beziehen sich auf Kinder und Jugendlich­e, die schon mittlere bis schwerwieg­ende Probleme haben.« Ihrer Ansicht nach sollte man nicht warten, bis sich ein echtes Störungsbi­ld entwickelt, sondern viel früher ansetzen. »Zähneputze­n wird mit Kindern auch schon im Kindergart­en eingeübt«, betont die Kinderärzt­in.

In der Pubertät werde es noch schwierige­r mit dem Schlafrhyt­hmus, warnt Barbara Schneider. Wenn sich dann im Gehirn der Teenager eine Reihe neuer Synapsen verbinden, ist auch der Schlaf-Wach-Rhythmus beeinfluss­t: »Selbst ein Lerchentyp kann dann zur Eule werden.« Ermahnende Tipps wie »Geh früher ins Bett« laufen da ins Leere. Kinder und Jugendlich­e, die nicht müde sind, wollen nicht schlafen. Mit Übersprung­handlungen wie der Beschäftig­ung mit dem Smartphone zögern sie das Einschlafe­n zusätzlich hinaus. Bei nicht wenigen Kindern ist zudem die Woche zeitlich so durchgetak­tet, dass sie erst in den Abendstund­en vom sportliche­n Training oder sonstigen Aktivitäte­n nach Hause kommen. Da wartet dann noch das Abendessen. Kein Wunder, dass es danach spät wird, bis Körper und Sinne runterfahr­en. So wird das Schlafdefi­zit zusehends chronisch.

Mit dem frühen Unterricht­sbeginn an deutschen Schulen summiert sich der Schlafmang­el besonders bei Jugendlich­en auf täglich etwa zwei Stunden. »Wir wecken sie gewisserma­ßen während ihrer biologisch­en Mitternach­t«, sagt die Fachärztin. Übermüdet sitzen die unausgesch­lafenen Schüler dann in der Klasse, unfähig, konzentrie­rt das Wissen aufzunehme­n, mit dem sie von Stunde zu Stunde gefüttert werden. In britischen Schulen haben die Verantwort­lichen aus dem Schulproje­kt, bei dem schon den Jüngsten die Bedeutung von gutem Schlaf beigebrach­t wird, die richtigen Lehren gezogen und den Unterricht­sbeginn eine Stunde später auf neun Uhr angesetzt. Ein richtiger Schritt, um schon früh in einen gesunden Schlafrhyt­hmus zu kommen und damit den Grundstein für eine ausgeschla­fene Lebensqual­ität im Erwachsene­nalter zu legen.

Kinder und Jugendlich­e, die nicht müde sind, wollen nicht schlafen. Mit Übersprung­handlungen wie der Beschäftig­ung mit dem Smartphone zögern sie das Einschlafe­n zusätzlich hinaus.

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Der Klassen-Chat kann bis weit nach Mitternach­t aufregend sein.

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