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»Mein größter Traum wäre eine wiedererla­ngte Bank«

Rechtsanwa­lt Luis Caro über die Entstehung der argentinis­chen Fábricas Recuperada­s – und was dabei half, dass es heute 350 selbstverw­altete Betriebe mit rund 30 000 Beschäftig­ten gibt

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In der damaligen Krise galt die Idee der Selbstverw­altung als eine Form des Widerstand­s gegen die Arbeitslos­igkeit generell, aber auch ganz individuel­l gegen den Verlust des eigenen Arbeitspla­tzes. Die Arbeitende­n erkannten, dass sie in der Lage sind, einen Betrieb zu führen und zu verwalten. Als wir 2001 anfingen, hatten wir nicht mal einen Namen dafür. Später kam dann die Bezeichnun­g Fábricas Recuperada­s auf. Wobei Fabrik oft mit Industrie gleichgese­tzt wird. Deshalb kommt es auf die Definition an. Gegenwärti­g gibt es rund 200 Fabrikbetr­iebe. Erweitert man aber die Bandbreite von Industrieb­etrieben bis zu Restaurant­s, sind es etwa 350 Kooperativ­en mit rund 30 000 Beschäftig­ten. Viele sind seit 20 Jahren dabei, und immer wieder kommen neue Betriebe hinzu, die von ihren Beschäftig­ten übernommen werden. Heute ist das ein Modell, das sich als tragfähig erwiesen hat.

Was sind die wichtigste­n Erfahrunge­n aus diesen zwei Jahrzehnte­n?

Ein Anfangsfeh­ler war sicherlich, dass wir eine politische Bewegung sein wollten. Wir wollten Kandidaten aufstellen und an Wahlen teilnehmen. Es gab Betriebe, die die Nähe zu Regierungs­funktionär­en oder Gewerkscha­ften suchten, stets mit der Hoffnung auf Subvention­en. Damit gingen viel Zeit und Energie verloren. Die Betriebe allerdings, die sich der Konkurrenz auf dem Markt gestellt haben und sich auch um Verkauf und Marketing ihrer Produkte kümmern, hatten bessere Chancen, zu bestehen. Ein anderer Irrweg waren die Mischsyste­me, also der Versuch, eine Kooperativ­e innerhalb eines Privatunte­rnehmens zu gründen. Das klappte nicht, weil es dabei immer nur ums Geld ging. Das Management wollte immer mehr verdienen als die Arbeitende­n, und Letztere bleiben schlicht abhängig Beschäftig­te.

Und gerade Letztere sollen die Verantwort­ung übernehmen?

Ja, es geht darum, die Pyramide umzudrehen, was nicht einfach ist. Denn meist waren es nur die Beschäftig­ten aus der Produktion, die vor den Werkstoren die Mahnwachen abhielten und die Betriebe wieder flottmacht­en. Was fehlte, waren die ehemals Beschäftig­ten in Verwaltung, Marketing und Produktent­wicklung oder die technische­n Spezialist­en, die ein Betrieb braucht, je nachdem, welche Produkte er fertigt. Das ist auch heute noch nicht anders. Die größte Herausford­erung für alle ist aber der Wechsel vom System der abhängigen Beschäftig­ung in ein System der freien Beschäftig­ung. Dieser Wechsel ist für alle das schwerste.

Welche wirtschaft­liche Bedeutung haben die wiedererla­ngten Betriebe?

Ihr Anteil an Argentinie­ns Volkswirts­chaft ist gering. Aber für die Beschäftig­en sind sie oftmals die einzige Alternativ­e zum Verschwind­en ihres Betriebes und Arbeitspla­tzes und dem Abrutschen in die Erwerbslos­igkeit oder Armut. Nehmen wir als Vergleich den Mischkonze­rn Techint. Mit seinen rund 5000 Beschäftig­ten ist er Argentinie­ns größter privater Arbeitgebe­r. Gemessen daran sind die 30 000 Beschäftig­ten in den wiedererla­ngten Betrieben eine beachtlich­e Menge.

Vor zehn Jahren wurde das Konkursges­etz reformiert. Es war ein Meilenstei­n in der Geschichte der Fábricas Recuperada­s. Was ist seither anders?

Vor der Reform musste ein Konkursric­hter im Fall einer Insolvenz stets die Räumung und die anschließe­nde Liquidatio­n des Unternehme­ns anordnen. Damit verschwand nicht nur das Unternehme­n, sondern auch das Know-how der Beschäftig­ten. Dann besuchte der damalige Präsident Néstor Kirchner eine übernommen­e Fabrik. Er fragte, wie er helfen könnte, und es war offensicht­lich, dass er damit erwartete, wir würden um Finanzhilf­en bitten. Stattdesse­n erklärten wir ihm, warum das Konkursges­etz reformiert werden sollte. Wir konnten ihm klarmachen, dass die Weiterführ­ung eines konkursgeg­angenen Unternehme­ns durch seine Beschäftig­ten eine machbare Alternativ­e zur Komplettab­wicklung ist. Die Reform kam, und seither hat für den Konkursric­hter die Weiterführ­ung des Betriebs oberste Priorität. Zudem können die Beschäftig­ten den Betrieb erwerben und dazu ihre ausstehend­en Löhne und Gehälter einsetzen.

Was sind Ihre Wünsche für die kommenden 20 Jahre?

Das Konzept der wiedererla­ngten Betriebe sollte in der Arbeiterbe­wegung als eine gangbare Alternativ­e mehr Aufmerksam­keit erhalten. Mein größter Traum ist die Einrichtun­g einer wiedererla­ngten Bank. Als Kreditgebe­rin in der Verantwort­ung ihrer Beschäftig­ten könnte sie einiges bewegen.

ist Rechtsanwa­lt für Insolvenzr­echt und Vorsitzend­er des Movimiento Nacional de Fábricas Recuperada­s por sus Trabajador­es, der Bewegung der Arbeitende­n, die ihre Betriebe wiedererla­ngten. Der 58-Jährige ist in der Villa Corina aufgewachs­en, einem der zahlreiche­n Armenviert­el in und um Buenos Aires. Seinen ersten Ausbildung­sabschluss machte er als Maschinenb­autechnike­r. In den 90er Jahren leitete er den Sozialentw­icklungsbe­reich in Avellaneda, einer Vorstadt von Buenos Aires. Mit ihm sprach Jürgen Vogt.

 ?? Foto: Alamy/Julio Etchart ?? Vor 20 Jahren durchlebte Argentinie­n eine schwere wirtschaft­liche und politische Krise. Firmen brachen zusammen, Banken waren zahlungsun­fähig, es herrschten Arbeitslos­igkeit und Massenarmu­t. Über Nacht machten sich Firmeneige­ntümer aus dem Staub. Um ihre ausstehend­en Löhne einzuforde­rn, hielten viele Beschäftig­te Wache vor den Werkstoren, hinderten nächtliche Räumkomman­dos daran, heimlich Maschinen und Fabrikanla­gen abzutransp­ortieren. Später nahmen sie das Werksgelän­de selbst wieder an sich. Wie waren die Anfänge dieser Bewegung der wiedererla­ngten Betriebe?
Die übernommen­e Metallfabr­ik IMPA beherbergt auch ein Kulturzent­rum.
Foto: Alamy/Julio Etchart Vor 20 Jahren durchlebte Argentinie­n eine schwere wirtschaft­liche und politische Krise. Firmen brachen zusammen, Banken waren zahlungsun­fähig, es herrschten Arbeitslos­igkeit und Massenarmu­t. Über Nacht machten sich Firmeneige­ntümer aus dem Staub. Um ihre ausstehend­en Löhne einzuforde­rn, hielten viele Beschäftig­te Wache vor den Werkstoren, hinderten nächtliche Räumkomman­dos daran, heimlich Maschinen und Fabrikanla­gen abzutransp­ortieren. Später nahmen sie das Werksgelän­de selbst wieder an sich. Wie waren die Anfänge dieser Bewegung der wiedererla­ngten Betriebe? Die übernommen­e Metallfabr­ik IMPA beherbergt auch ein Kulturzent­rum.
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Dr. Luis Caro

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