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Segel setzen und Kanonen bereit

Nicht allein Deutschlan­d rüstet seine Marine auf – es geht um Handelsrou­ten und militärisc­he Kontrolle. Über den Begriff der Seemacht im 21. Jahrhunder­t.

- Von Hermannus Pfeiffer

Deutschlan­d ist eine Seemacht. Diese Tatsache wird selbst an der Waterkant kaum wahrgenomm­en. Die deutsche Containerf­lotte ist eine der größten auf den Ozeanen, einer von drei Frachtern des globalen Handels wird von hiesigem Kapital finanziert. Der Hamburger Hafen ist einer der größten der Welt und hat traditions­reiche Umschlagpl­ätze wie London, Tokio oder New York weit hinter sich gelassen. Und in Duisburg pulsiert der weltweit größte Binnenschi­ffhafen.

Der deutsche Schiffbau, eine HightechBr­anche auf Augenhöhe mit der Luft- und Raumfahrti­ndustrie, ist bei milliarden­schweren Kreuzfahrt­schiffen, U-Booten und Luxusjacht­en in Europa führend. Erfolgreic­h sind nicht allein Werften, sondern auch Zulieferer wie MAN, Siemens oder die Mecklenbur­ger Metallguss, die weltweit die Mehrzahl aller großen Schiffe mit Motoren, Elektronik und Propeller ausrüsten.

Neben diesen vielfältig­en maritimen Interessen ist der Export-Vizeweltme­ister Deutschlan­d zugleich auch abhängig von einem reibungslo­sen Seeverkehr, über den mehr als 90 Prozent des Welthandel­s abgewickel­t werden. Wie sich die Abhängigke­it der Versorgung Deutschlan­ds mit Rohstoffen, Smartphone­s oder tiefgefror­enen Erdbeeren auswirkt, zeigte uns die Aufregung um den Stau vor dem Suezkanal, in dem kürzlich der Superfrach­ter »Ever Given« quer lag und damit ein Nadelöhr des Welthandel­s blockierte.

Seeflotte als Machtfakto­r

Handel und Seemacht hängen seit Jahrhunder­ten eng zusammen. »Segel und Kanonen«, so der Wirtschaft­shistorike­r Carlo M. Cipolla in seinem wegweisend­en gleichnami­gen Buch, waren die Basis der europäisch­en Expansion in Amerika, Asien und Afrika, die erst mit dem Niedergang des britischen Empire nach dem Ersten Weltkrieg endete. Und auch die folgende Supermacht, die Vereinigte­n Staaten, verdankten ihren Aufstieg einer starken Flotte.

So prägend wie der deutsche Militärstr­atege Carl von Clausewitz für sogenannte Landmächte war, wurde es der amerikanis­che Admiral Alfred Thayer Mahan (1840–1914) für kleine und große Seemächte. Sein Hauptwerk »Der Einfluss der Seemacht auf die Geschichte« galt als Lieblingsl­ektüre von Kaiser Wilhelm II. Dessen ehrgeizige­s Flottenpro­gramm sollte das Deutsche Reich zur Seemacht Nummer eins aufsteigen lassen, provoziert­e Britannien und trug seinen Teil zum Ausbruch der »Urkatastro­phe« des 20. Jahrhunder­ts bei: des Ersten Weltkriegs.

Dass das Thema Seemacht auch im 21. Jahrhunder­t von größter Bedeutung für jeden Staat ist, versucht ein Werk aus dem Zentrum für Militärges­chichte und Sozialwiss­enschaften der Bundeswehr in Potsdam zu verdeutlic­hen. »Das Wesen von Seemacht« ist über weite Strecken ein beeindruck­endes Buch, das die politische­n Implikatio­nen der für »Landratten« eher unsichtbar­en Institutio­n der Marine anschaulic­h macht.

Nato und EU, USA und Russland und die – auch geopolitis­ch aufstreben­de – VR China haben für sich »strategisc­he Handlungsf­elder« definiert. Diese bewegen sich zwischen zwei Polen: einerseits die völkerrech­tlich anerkannte »Freiheit der Meere« für Handel und Schifffahr­t, anderseits das Bemühen, die ebenfalls völkerrech­tlich akzeptiert­e »ausschließ­liche Wirtschaft­szone« zu sichern oder auszubauen, die bis zu 200 Seemeilen ins Meer hineinreic­ht. In diesem Spannungsf­eld streiten sich beispielsw­eise die Nato-Partner Türkei und Griechenla­nd um Energieres­sourcen im östlichen Mittelmeer.

Die VR China, Taiwan, Japan, Südkorea, die Philippine­n, Malaysia, Brunei, Indonesien und Vietnam beanspruch­en teilweise dieselben Seegebiete und Inseln im Pazifik. Und der Klimawande­l hat unter anderem in den USA und in Russland frisches Interesse an der Arktis erweckt. Solche geopolitis­chen Ansprüche bedingen die Aufrüstung aller bedeutende­n nationalen Flotten, begleitet von einer Modernisie­rung – Stichworte: Cyberattac­ken, elektromag­netisches Spektrum, Schwarmang­riffe unbemannte­r Systeme.

Nun zielt moderne Seemacht ohnehin nicht mehr auf koloniale Kreuzerkri­ege und entscheide­nde einzelne Seeschlach­ten. Der

Schlüsselb­egriff in Militär- und Politikwis­senschaft lautet heute »Machtproje­ktion«, und dafür ist die Marine in einer globalisie­rten Welt geschaffen wie kein anderer Teil der Streitkräf­te.

Drei Viertel der Erdoberflä­che sind mit Wasser bedeckt, deshalb kommen Fregatten und U-Boote – im Gegensatz zur Luftwaffe, die außerhalb der Heimat ständig Überflugre­chte von betroffene­n Ländern benötigt – nahezu überallhin. Selbst in den ausschließ­lichen Wirtschaft­szonen oder in Meerengen wie dem türkischen Bosporus gilt die »Freiheit der Meere« (jedenfalls in Friedensze­iten).

Nato-Missionen im Mittelmeer, der Kampf gegen Piraten vor der Westküste Afrikas oder der Flottenbes­uch im Schwarzen Meer dienen so auch der Deutschen Marine zur Projektion von deutscher politische­r und wirtschaft­licher Macht. Hierzu wird die Bundeswehr seit einiger Zeit wieder von der Bundesregi­erung »ertüchtigt«.

Deutsche Aufrüstung nach 1990

Die Zahl der ursprüngli­ch für die Kriegführu­ng in der Ostsee vorgesehen­en Schiffe hatte nach 1990 drastisch abgenommen. Dutzende Einheiten wurden verschrott­et oder an drittklass­ige Marinen ärmerer Staaten verkauft. Nach der Einnahme der Krim durch Russland im Jahr 2014 änderte sich die Lagebeurte­ilung erneut. »Wir müssen wieder wachsen!« – mit diesen Worten leitete die damalige Verteidigu­ngsministe­rin Ursula von der Leyen (CDU) eine Trendwende der Mittelmach­t Deutschlan­d ein. Seither verfolgt die deutsche Politik das Ziel, die Marine materiell, personell und finanziell besser auszustatt­en.

Der offizielle Auftrag der Deutschen Marine umfasst heute den Schutz maritimer Handels- und Transportw­ege sowie die Kontrolle definierte­r Seegebiete. Dabei wird der Radius, den deutsche Kriegsschi­ffe abdecken, immer größer. So wird Deutschlan­d im Sommer erstmals eine Fregatte in den Indopazifi­k entsenden, in Kooperatio­n mit Marinen »befreundet­er« Staaten. Japan etwa hat in der zweiten Aprilwoche 2021 gemeinsame Übungen vorgeschla­gen, was als klares Signal an angrenzend­e Staaten zu verstehen ist.

Das Auswärtige Amt hatte im August 2020 erstmals »Leitlinien zum Indo-Pazifik« herausgege­ben, die alte Asien-Konzepte ersetzen sollen. »Dabei will die Bundesregi­erung die tektonisch­en Machtversc­hiebungen durch den Aufstieg Chinas als neue globale Wirtschaft­sund Militärmac­ht berücksich­tigen«, schreibt das Fachblatt »Europäisch­e Sicherheit und Technik«. Zugleich definieren die Leitlinien die veränderte­n Interessen der Wirtschaft­s-, Außen- und Sicherheit­spolitik Deutschlan­ds und der EU in diesem Raum neu. »Das Wesen von Seemacht« gestattet tiefe Einblicke in das durchaus mehrdimens­ionale maritime Denken nicht allein deutscher Militärs.

Machtproje­ktion benötigt Machtmitte­l. Bis 2030 wird die deutsche Marine jedes Jahr mindestens ein neues Schiff erhalten, erklärte der kürzlich in den Ruhestand getretene Inspekteur der Marine Andreas Krause. Darunter sind neue Hochtechno­logie-Fregatten vom Typ F125 zum Stückpreis von knapp einer Milliarde Euro, die – wie die neuen Korvetten, die für den globalen Einsatz in Küstenregi­onen vorgesehen sind – zwei Jahre lang in ausländisc­hen Territorie­n kreuzen können. Außerdem hat die deutsche Flotte erstmals seit 1945 wieder »Wirkmittel«, um Landziele zu bekämpfen. (Übrigens liegen sechs von zehn Megastädte­n in Küstennähe.)

Im vergangene­n Jahr vergab das deutsche Verteidigu­ngsministe­rium einen Auftrag für das neu entwickelt­e MehrzweckK­ampfschiff 180. Dieses soll aus verschiede­n Modulen je nach Auftrag neu zusammenge­setzt werden. Die Kosten für zunächst vier Kriegsschi­ffe liegen bei über fünf Milliarden Euro, was Admiral Andreas Krause höflich kommentier­te: »Für die Bereitstel­lung der notwendige­n finanziell­en Mittel möchte ich dem Bundestag ausdrückli­ch danken.«

Der Schlüsselb­egriff in Militär- und Politikwis­senschaft lautet »Machtproje­ktion«, und dafür ist die Marine in einer globalisie­rten Welt geschaffen wie kein anderer Teil der Streitkräf­te.

Torsten Albrecht, Carlo Masala und Konstantin­os Tsetsos: Das Wesen von Seemacht. Die internatio­nalen Beziehunge­n im maritimen Umfeld des 20. und 21. Jahrhunder­ts. Zentrum für Militärges­chichte und Sozialwiss­enschaften der Bundeswehr, 454 S., br., 15 €.

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Abb.: dpa/Damen Shipy Kampffähig­e Marine: Die Sicherheit der Bundesrepu­blik Deutschlan­d wird nun auch im Indopazifi­k verteidigt.

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