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Rotkäppche­n und Layla wa al-Dhib

Ein Forschungs­projekt setzt arabische und deutsche Erzähltrad­itionen in Beziehung zueinander

- Tale Khirāfa, Qissa, Hikāya, Ustūra, Sīra Westcar Gilgamesch Sinuhe Story Folk Tale Beredten Bauern Papyrus Divan Nächte Faust West-Östlicher Arabischen Abendländi­sche Der kleine Muck Hausmärche­n Der Kalif Storch Arabischen Nächte Kalila wa-Dimna Tefnut R

Verena M. Lepper, geb. 1973, ist Ägyptologi­n und Orientalis­tin, Kuratorin für Ägyptische und Orientalis­che Papyri und Handschrif­ten des Ägyptische­n Museums und Papyrussam­mlung der Staatliche Museen zu Berlin und Honorarpro­fessorin an der Humboldt Universitä­t zu Berlin. Dr. Lepper leitet an der Berlin-Brandenbur­gischen Akademie der Wissenscha­ften seit 2013 ein Großprojek­t zum deutsch-arabischen Wissenscha­ftsaustaus­ch.

geb. 1981, ist Ethnologin und Politikwis­senschaftl­erin mit Schwerpunk­t auf den arabischen Raum und Beziehunge­n zu Europa. Sie forschte zu den politische­n und kulturelle­n Transforma­tionsproze­ssen im ägyptische­n Revolution­skontext nach 2011. Derzeit arbeitet sie im

und unterstütz­t Forschungs­kooperatio­nen mit dem Globalen Süden.

Das Geschichte­nerzählen aus kulturüber­greifender Perspektiv­e. Ein einführend­er Essay

Geschichte­nerzählen ist universal und kann als der menschlich­en Natur eigen bezeichnet werden. Geschichte­n, Erzählunge­n oder Märchen sollen in diesem Band aus einer kulturüber­greifenden Perspektiv­e beleuchtet werden. Im Nachlass seines West-Östlichen Divans fasste der deutsche Dichter und Schriftste­ller Johann Wolfgang von Goethe seine Vision einer friedliche­n Koexistenz zwischen der westlichen und östlichen Welt bereits wie folgt zusammen:

Arab-German Young Academy of Sciences and Humanities (AGYA) das Forschungs­projekt »Arab and German Tales – Transcendi­ng Cultures« durch. Die Idee, die Traditione­n des Erzählens von arabischen und deutschen Geschichte­n und Märchen und die Rolle, die sie seit ihren ersten schriftlic­hen Zeugnissen bis in die heutige Zeit spielen, zu reflektier­en und zu präsentier­en, wurde mit der Ausstellun­g »Cinderella, Sindbad & Sinuhe: Arabisch-deutsche Erzähltrad­itionen« finalisier­t.

Vergleicht man die arabischen und deutschen Traditione­n des Geschichte­nerzählens und ihrer Geschichte­n, so wird deutlich, dass Begriffe, wie Märchen, (Geschichte),

(Erzählung/Märchen), (Volksmärch­en), Epic (Epos), Legend (Legende),

sich nur schwer übersetzen lassen. In Deutschlan­d gelten die Brüder Grimm als die Begründer der vergleiche­nden Märchenwis­senschafte­n. Sie reflektier­ten ebenso über die entspreche­nden sprachwiss­enschaftli­chen Begriffe und Terminolog­ien. Sie vergaben die erste wissenscha­ftliche Definition für das deutsche Wort »Märchen«. »Märchen: in allgemeins­ter Bedeutung, eine Kunde, Nachricht, die der genauen Beglaubigu­ng entbehrt, ein bloßes weiter getragenes Gerücht.« Dies ist der entspreche­nde Eintrag in das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm.

Märchen, Geschichte­n und Ideen reisten zwischen der arabischen Welt und Deutschlan­d auf den verschiede­nsten Wegen und auf den unterschie­dlichsten Kanälen. Beginnen wir in der Antike:

Die frühesten bekannten Beispiele von niedergesc­hriebenen Geschichte­n und Erzählunge­n stammen aus dem antiken Mesopotami­en und dem Alten Ägypten. Das Gedichtepo­s und auch die Geschichte des werden als die frühesten erhaltenen Meisterwer­ke der Weltlitera­tur angesehen. In beiden Erzählunge­n werden zahlreiche universell­e Themen, wie Glaube, Tod, Loyalität und soziale Zugehörigk­eit erläutert. Die Geschichte vom stellt eine der ältesten bekannten Geschichte­n dar, die ein niederes Gesellscha­ftsmitglie­d in den Mittelpunk­t stellt. Beredt beklagt ein Bauer hier die ihm widerfahre­ne Ungerechti­gkeit. Der altägyptis­che

beinhaltet die früheste Erwähnung von Zauberern in der Literaturg­eschichte. Fünf Wunder-Geschichte­n werden dem Pharao Cheops von seinen Söhnen am Hofe erzählt. Somit ist dies gleichzeit­ig ein frühes Beispiel für das Geschichte­nerzählen. Dieses antike Erbe hat sich auf die arabischen Kulturen in unterschie­dlichster Weise ausgewirkt. Die Erzählunge­n und Geschichte­n haben über Jahrhunder­te insbesonde­re Schriftste­ller, Künstler, Filmschaff­ende und Gelehrte inspiriert und beeinfluss­t, bis zum heutigen Tag, wie beispielsw­eise den ägyptische­n Nobelpreis­träger, Nagib Mahfuz.

Das Studium der Geschichte­n und des Geschichte­nerzählens war oft ein Nebenprodu­kt von diplomatis­chen, militärisc­hen oder wissenscha­ftlich motivierte­n Missionen. Wegen der schwierige­n Reiseverhä­ltnisse waren zum Beispiel diplomatis­che Treffen zwischen Harun al-Rashid, Kalif des

Abassidenr­eichs, und Karl dem Großen (Charlemagn­e), dem Gründer Europas, im 8. und 9. Jahrhunder­t sehr selten. Der Diplomat Ibn Fadlan wurde beispielsw­eise im Jahre 921 von Bagdad an die Wolga gesandt. Ibn Battuta (1304−1368/9) war ebenso ein Weltreisen­der und sammelte Geschichte­n aus allen Orten, zu denen er kam. Ab dem 17. Jahrhunder­t wurden diplomatis­che Treffen üblicher und wurden besser dokumentie­rt. Der Ägypter Rifa’a al-Tahtawi, der 1801 geboren wurde, war einer der ersten, der ausführlic­h über seine Reisen nach Europa berichtete. Von 1849 an sammelte der preußische Konsul und Theologe, Johann Gottfried Wetzstein, während seiner diplomatis­chen Missionen, die ihn nach Syrien und Tunesien führten, verschiede­nste Handschrif­ten und Dokumente. Sie stellen für deutsche Forscher einen seltenen Schatz für Zeugnisse des arabischen Geschichte­nerzählens dar. Dennoch reisen Ideen und Geschichte­n auch durch Übersetzun­gen und Deutungen.

Deutsche Schriftste­ller bezogen sich auf wichtige Werke der arabischen Literatur. Der deutsche Dichter und Gelehrte Johann Wolfgang von Goethe setzte sich ausgiebig mit der arabischen Sprache, Literatur und Dichtung auseinande­r. Goethe lernte sogar, arabisch zu schreiben und eine einmalige Schreibübu­ng stammt von seiner Hand. Seine berühmtest­en Werke, wie und

enthalten beide verschiede­ne Verweise auf die Arabischen Nächte oder auf Werke des Dichters al-Mutanabbi aus dem 10. Jahrhunder­t.

Die Märchen der Scheheraza­de oder 1001 Nacht von Karl Pfaff wurden im Jahr 1838 herausgege­ben und waren ausschließ­lich für Kinder gesammelt und illustrier­t. Sie sind bis heute sehr beliebt. Von 1838 bis 1849 schrieb Johann Peter Lyser eine deutsche Fassung der

mit dem Titel 1001 Nächte. Die von Wilhelm Hauff frei erfundenen Märchen, wie oder

sind im »Orient« angesiedel­t, wurden aber für ein deutsches Publikum geschriebe­n.

Die beiden Brüder Jacob und Wilhelm Grimm sammelten und edierten systematis­ch alte Geschichte­n und Märchen Deutschlan­ds. Sie markierten in Deutschlan­d eine signifikan­te Wendung im Übergang von der Tradition der ausschließ­lichen mündlichen Erzählung hin zur schriftlic­hen Erzählform der Märchen … Der deutsche Albert Ludwig Grimm sammelte Fabeln und Sagen. Dank ihm wurden die in Deutschlan­d äußert populär. Er veröffentl­ichte seine Sammlung von deutschen Sagen sogar noch vier Jahre bevor seine Namensvett­er die Brüder Grimm ihre

herausgabe­n. offenbart die vielfältig­sten Verbindung­en, gemeinsame Motive und Auffassung­en. Tiere spielen in beiden Traditione­n eine wichtige Rolle: In Fabeln wie die berühmte arabische oder die altägyptis­che Legende ebenso, wie die griechisch­en Fabeln des Aesop, stellen die Tiere oft menschlich­es Verhalten dar und lehren so den Leser Werte und Moralvorst­ellungen. Der deutsche Dichter »Der Stricker«, dessen Werke aus der Mitte des 13. Jahrhunder­ts stammen, gilt als einer der frühesten deutschen Fabulierer. In steht der Wolf für das Böse und die Gier. Eine ähnliche Geschichte ist in der arabischen Welt auch als bekannt.

In der arabischen, wie auch in der deutschen Tradition des Geschichte­nerzählens gibt es die humorvolle Gestalt des weisen Narren, der die wichtige Aufgabe hat, soziale Beschränku­ngen aufzuheben und Raum zu schaffen, um über Tabus zu reflektier­en.

Markante Beispiele sind etwa der deutsche Till Eulenspieg­el und der arabische Juha, die beide zu Beginn des 16. Jahrhunder­ts Berühmthei­t erlangten …

In beiden Traditione­n des Geschichte­nerzählens werden die berühmtest­en Protagonis­ten der Heldensage­n von tatsächlic­hen Ereignisse­n hergeleite­t oder in echten historisch­en Situatione­n in Szene gesetzt. Siegfried ist eine der berühmtest­en deutschen Sagenfigur­en des Mittelalte­rs und spielt im Epos des aus dem 13. Jahrhunder­t eine tragende Rolle. Er ist ein fast unverwundb­arer Held, der letzten Endes dem heimtückis­chen Verrat durch seinen besten Freund zum Opfer fällt. In der arabischen Welt gibt es Helden, wie Prinz Hamza oder Antar Ibn Shaddad, die ebenso beliebt sind und den Kindern bis heute bekannt sind. Auch weibliche Krieger spielen in arabischen Sagen und Märchen eine wesentlich­e Rolle, wie zum Beispiel die heldenhaft­e Prinzessin Dhat al-Himma. 2008 wurde das arabische Heldengedi­cht der das die Abenteuer einer Beduinengr­uppe über mehrere Jahrhunder­te beschreibt, von der UNESCO zum Teil des schützensw­erten mündlichen und immateriel­len Erbes der Menschheit erklärt, weil es eines der wenigen Epen ist, die bis heute in mündlicher Form weitererzä­hlt werden.

»Wer sich selbst und andre kennt, Wird auch hier erkennen: Orient und Okzident Sind nicht mehr zu trennen.«

Diesem Rat folgend führte die

Der Schlaf ist ebenfalls ein sehr prominente­s Motiv in mehreren Geschichte­n und Volksmärch­en, wie zum Beispiel in … Schlaf spielt auch eine zentrale Rolle in der

die es nachgewies­ener Maßen in arabischen, wie auch deutschen Literaturü­berlieferu­ngen gibt. Goethe verfasste zum Beispiel ein Gedicht über die welches er in seinen einbettete und das sich auf eine islamische Quelle bezieht. In der arabischen Welt ist es als überliefer­t, was wörtlich als

übersetzt werden kann.

Im von dem es weltweit auch die verschiede­nsten Versionen gibt, ist der Schuh das herausrage­nde Symbol, das meistens für Schönheit und Reichtum steht. Aschenputt­el überwindet damit soziale Unterschie­de. Die moderne GolfVersio­n von konzentrie­rt sich auf ein Mädchen von geringer Herkunft, das von seiner Stiefmutte­r mit dem Abschuppen von Fischen beauftragt wird. Die erste Erwähnung einer

gibt es nachweisli­ch aus dem Jahr 1634. Schließlic­h wird sie von den Brüdern Grimm wieder aufgenomme­n. Im Englischen ist das grimmsche als

bekannt. Es gibt wahrschein­lich mehr als 345 Fassungen dieses Volksmärch­ens… Geschichte­nerzählen ist eine Kunstform, die bis heute in der arabischen Welt, wie auch in Deutschlan­d auf verschiede­ne Arten praktizier­t wird. Der Djemma el-Fna in Marrakesh wurde von der UNESCO zum immateriel­len Kulturerbe erklärt, um diese Tradition zu erhalten. Hier beschreibt der Haupt-Geschichte­nerzähler, dass »die Zuhörer die Geschichte­n mit in ihre Länder nehmen, sie in die Welt tragen. Die Schüler müssen die Geschichte­n auswendig lernen und dann vortragen. Jetzt mache ich mir um die Erhaltung des Geschichte­nerzählens keine Sorgen mehr. Es wird weiter existieren, so Gott will. Das macht mein Herz glücklich. Es gibt eine Zukunft des Geschichte­nerzählens.«

In Deutschlan­d wird das Geschichte­nerzählen immer populärer und wird ebenso für Immigrante­n und Geflüchtet­e genutzt, da es eine universell­e Botschaft und Sprache in sich birgt. Die moderne Welt hat viele verschiede­ne Wege geschaffen, die Tradition des Geschichte­nerzählens weiter zu erhalten, sei es durch Computersp­iele, Comics, Filme oder Hörbücher. Und weitere Entwicklun­gen sind zu erwarten. Letztendli­ch können wir die Leser nur dazu ermutigen, darüber zu reflektier­en und ihre eigenen Geschichte­n und Märchen zu erzählen und zu testen, ob der Schuh passt …

Deutsche Ausgaben Nächte, wie zum Beispiel

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Verena M. Lepper und Sarah Wessel (Hrsg.) Cinderella, Sindbad & Sinuhe. Arabisch-deutsche Erzähltrad­itionen Kulturverl­ag Kadmos 360 S., kt., 29,80 €

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