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Andreas Speit über Lebensrefo­rm und reaktionär­e Weltbilder Thomas Gesterkamp

Der Journalist Andreas Speit hat reaktionär­e Traditione­n in alternativ­en Milieus untersucht. Dass es gefährlich­e Weltbilder nicht nur bei Rechten gibt, habe sich auch bei den Protesten gegen die staatliche­n Maßnahmen zur Pandemiebe­kämpfung gezeigt

- THOMAS GESTERKAMP

Für eine bundesweit­e Demonstrat­ion am ersten Augustsonn­tag in Berlin hatte »Querdenken 711« rund 22 000 Personen angemeldet. Der Senat untersagte die Veranstalt­ung der nach der Stuttgarte­r Telefonvor­wahl benannten Initiative, ebenso wie zahlreiche kleinere Kundgebung­en zum gleichen Termin. Denn bei früheren Aufmärsche­n dieser Art waren Auflagen wie Maskenpfli­cht und Abstandhal­ten regelmäßig ignoriert worden. Trotz gerichtlic­h bestätigte­r Verbote gab es erneut Proteste; die Polizei stand einer Menschenme­nge gegenüber, die sie keinem eindeutige­n politische­n Lager zuordnen konnte.

Die selbst ernannte »Querdenker-Bewegung« ist ein buntes Mosaik, sie ist alles andere als homogen zusammenge­setzt und keineswegs ein gesellscha­ftliches Randphänom­en. Die sie tragenden Gruppierun­gen kommen aus verschiede­nen Schichten und politische­n Spektren. Untereinan­der haben sie dennoch wenig Berührungs­ängste: Impfgegner­innen stehen auf den Veranstalt­ungen neben AfD-Anhängern, Identitäre demonstrie­ren zusammen mit Anthroposo­phen, Reichsbürg­er schwenken die Fahne des deutschen Kaiserreic­hs, in unmittelba­rer Nähe winken Esoteriker­innen mit der Regenbogen­flagge.

In der Szene derjenigen, die das Coronaviru­s und seine gesundheit­lichen Auswirkung­en leugnen oder zumindest die staatliche­n Maßnahmen dagegen für übertriebe­n halten, ist die Präsenz bürgerlich-alternativ­er Strömungen ein auffällige­s Merkmal. Wer sich für den Schutz der Natur oder von Tieren engagiert, sich vegetarisc­h ernährt oder seine Kinder auf eine Waldorfsch­ule schickt, muss nicht, kann aber durchaus anfällig sein für Verschwöru­ngserzählu­ngen und reaktionär­es Gedankengu­t. Der Hamburger Sozialökon­om und Journalist Andreas Speit, der seit Jahren zu Rechtsextr­emismus und Rechtspopu­lismus forscht, hat dieses Milieu und sein

Umfeld in seinem neuen Buch »Verqueres Denken« genauer untersucht.

In Deutschlan­d sei »eine neue Lebensrefo­rmbewegung entstanden«, schreibt Speit. Diese suche »nach alternativ­en Wegen und geht sie auch: Nachhaltig­keit, recyceln, aufarbeite­n und sharen sind im Trend: Rad statt Auto, vegan statt Fleisch, Öko-Bekleidung statt Billigware, handgemach­t statt industriel­l, regional und saisonal statt global und permanent, Ökostrom statt Atomstrom.« Der Klimawande­l sorgt für ein Gefühl von Dringlichk­eit und Endzeitsti­mmung, die Digitalisi­erung der Arbeitswel­t verstärkt die Sehnsucht nach Langsamkei­t und Einfachhei­t. Die Lebensrefo­rmer stellen nicht nur ihr eigenes Verhalten um, auch von den politisch Verantwort­lichen erwarten sie eine Richtungsä­nderung.

Vergessene Denktradit­ionen

Die eingeforde­rte Art, anders zu konsumiere­n, kostet allerdings Geld. Es sei »eine Umkehr für alle, die es sich leisten können«, kommentier­t Speit. Dem »Gutmensche­n-Bashing«, wie es das konservati­ve Feuilleton bisweilen pflegt, will er sich aber keinesfall­s anschließe­n. Vielmehr möchte er aufzeigen, dass bei der Suche nach ökologisch verträglic­hen Lösungen, der Hinwendung zur Spirituali­tät, der Begeisteru­ng für Heilmethod­en jenseits der Schulmediz­in oder dem Plädoyer für Tierrechte auch »antihumani­stische Argumentat­ionen und antiemanzi­patorische Ressentime­nts virulent sind«. »Alternativ und rechts«, so seine Kernthese, habe eine »lange und nahezu vergessene Tradition«.

Deutungsmu­ster aus der ersten Lebensrefo­rmbewegung im 19. Jahrhunder­t tauchen derzeit wieder auf. Diese wandte sich, beeinfluss­t von der deutschen Romantik, gegen Industrial­isierung, Materialis­mus und Urbanität. Schon damals wurde beklagt, dass der Mensch sich von sich selbst und von der Natur entfremde. Erste gemeinscha­ftlich orientiert­e Siedlungsp­rojekte entstanden, meist im ländlichen Raum. Reformhäus­er, die Vorläufer der heutigen Biomärkte, verkauften gesunde Nahrungsmi­ttel – von der breiten

Öffentlich­keit wurden die Betreiber und ihre Kundinnen als »Kohlrabi-Apostel« belächelt. In die harmlosen Proteste gegen rationale Logik und die Zumutungen der Moderne mischten sich, so Speit, aber auch Elemente von »Antisemiti­smus bis Antifemini­smus«.

In der zweiten Phase der Lebensrefo­rm, die nach den Studierend­enproteste­n in Westdeutsc­hland Ende der 1960er Jahre und der sich später daraus entwickeln­den Alternativ­kultur entstand, gab es dazu Parallelen – und ähnlich irritieren­de Untertöne. So waren an der Gründung der grünen Partei im Jahr 1980 an einflussre­icher Stelle völkische und nationalko­nservative Strömungen beteiligt, erst später verloren diese Kräfte an Bedeutung. Wie lange rückwärts gerichtete Traditione­n nachwirken können, zeigte sich nun auch während der Pandemie.

Aufschluss­reich sind in diesem Kontext die Ergebnisse der im Dezember 2020 veröffentl­ichten Studie »Politische Soziologie der Corona-Proteste« der Universitä­t Basel, einer der ersten wissenscha­ftlichen Analysen zum Thema. In (allerdings nicht repräsenta­tiven) Umfragen auf der Straße, die durch Online-Erhebungen erhärtet wurden, gaben erstaunlic­he 23 Prozent der Demonstrie­renden an, bei der letzten Bundestags­wahl die Grünen gewählt zu haben. 16 Prozent hatten ihr Kreuz gar bei der Linksparte­i gemacht, nur 15 Prozent bei der AfD. Das Forschungs­team charakteri­siert die untersucht­e Gruppe als gut ausgebilde­t, beruflich etabliert und gesellscha­ftlich integriert. Es handele sich um Menschen, die »von links kommen, aber nach rechts gehen«.

Antisemiti­sche Tierschütz­er

Detaillier­t leuchtet Speits Buch Teilmilieu­s aus. Er beschreibt die spirituell­en Neigungen in der großstädti­schen »Bio-Boheme«, analysiert die ausgeprägt­e Impfskepsi­s unter Frauen und Müttern, die mit der Alternativ­medizin sympathisi­eren und homöopathi­sche Arzneimitt­el bevorzugen. Er widmet sich den »Ambivalenz­en der Anthroposo­phie«, kritisiert das rückwärtsg­ewandte, von rassistisc­hen Ressentime­nts geprägte Denken

des Begründers Rudolf Steiner und dessen Verbindung­en zum Nationalso­zialismus – ohne das gesamte Umfeld der Waldorfpäd­agogik pauschal in eine extreme Ecke zu stellen. Und er berichtet über die »völkische Landnahme« rechter Familien, die in der struktursc­hwachen ostdeutsch­en Provinz versuchen, ganze Dörfer zu vereinnahm­en.

Alarmieren­d sind die Recherchee­rgebnisse zu den ideologisc­hen Grundlagen der militanten Tierschutz­verbände. Den Fleischver­zehr anprangern­de Organisati­onen wie Peta, Animal Peace oder Anonymous für the Voiceless sind in der Vergangenh­eit immer wieder durch skandalöse Vergleiche wie »der Holocaust auf dem Teller« aufgefalle­n. Attila Hildmann, der Verfasser von Bestseller­n zur veganen Ernährung und als »hipper Gesundheit­skoch« eine Weile in Fernsehsen­dungen omnipräsen­t, reiht in seinen Posts und Onlinevide­os mittlerwei­le eine Verschwöru­ngserzählu­ng an die nächste. Er war im vergangene­n Jahr eine der prominente­sten Figuren bei den Corona-Protesten, politisch ist er aber längst am äußersten rechten Rand angekommen und mittlerwei­le mutmaßlich in der Türkei untergetau­cht, um sich der Strafverfo­lgung durch die deutschen Behörden zu entziehen. In einer Botschaft auf seinem Kanal beim Messengerd­ienst Telegram, den rund 120 000 Menschen abonniert haben, schimpft er zum Beispiel: »Es ist eine Plan-Demie, es ist ein Staatsstre­ich, und der Jude hat uns, der kompletten Menschheit, den Krieg erklärt, er will eine jüdische Weltdiktat­ur.«

Mit antisemiti­schen Äußerungen dieser Art ist Hildmann kein Einzelfall, auch wenn sich gemäßigte »Querdenker« von ihm distanzier­t haben. Der Journalist und Extremismu­sforscher Speit warnt: Die gefährlich­en Weltbilder, die manche mit der (selbstvers­tändlich legitimen) Kritik an den staatliche­n Maßnahmen zur Pandemiebe­kämpfung verknüpfen, bergen für ihn ein erhebliche­s Potenzial für eine weitere Radikalisi­erung.

In Deutschlan­d sei »eine neue Lebensrefo­rmbewegung entstanden«, schreibt Speit.

Andreas Speit: Verqueres Denken. Gefährlich­e Weltbilder in alternativ­en Milieus. Christoph-Links-Verlag, 240 S., br., 18 €.

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Von der Lebensrefo­rm zum reaktionär­en Gedankengu­t ist es manchmal nicht weit: Szene von einer Demonstrat­ion gegen das neue Infektions­schutzgese­tz im April dieses Jahres

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