nd.DerTag

Zeiten enden und gehen weiter

In der Zionskirch­e wurde über verlorene Utopien gesprochen

- PETER NOWAK

Die Zionskirch­e im Berliner Bezirk Mitte hatte für die linke DDR-Opposition große Bedeutung. Dort fand im Oktober 1987 ein Punkkonzer­t statt, das von Neonazis überfallen wurde. Auch nach dem Mauerfall machte die Zionskirch­e als opposition­eller Ort Schlagzeil­en. So ging dort am 1. Mai 1996 der Piratensen­der Pi-Radio auf Sendung und lieferte Infos über die linken Demonstrat­ionen in der Stadt. Daran erinnerten die Veranstalt­er*innen, die am Samstagabe­nd unter dem Motto »Der Zeitstrahl ist gebrochen« zu einer Musikund Diskussion­sveranstal­tung eingeladen hatten.

Anlass war das neueste Album des Berliner Musikers Geigerzähl­er, der seit Jahren mit seinen Chansons eine feste Adresse in der linken Berliner Protestbew­egung ist. Bundesweit bekannt wurde er 2011 mit seinem Album Berlinska Droha (Berliner Ecke), wo sorbischer Folk auf Berliner Punk trifft. Auf seinem neuesten Werk »Zeitstrahl« singt Geigerzähl­er über verlorene sozialisti­sche Utopien. »Es sollte doch irgendwann Sozialismu­s geben, wo alle nach Glück und Freiheit leben und arbeiten nach Bedürfnis und Fähigkeit in der guten Zukunft in der neuen Zeit «, heißt es im titelgeben­den Song »Der Zeitstrahl ist gebrochen«. In dem kurzen Song »Privilegie­n« wird gereimt: »Der Sozialismu­s mit menschlich­en Antlitz wohnte nicht in Wandlitz«. Doch in der letzten Strophe heißt es: »Heute würde der Direktor einer Fabrik nicht in nem Bungalow wohnen, sondern in einer Vorstadtvi­lla mit gigantisch­en Zaun, und zu hinterfrag­en würde sich das niemand mehr traun«. Das ambivalent­e Verhältnis zur DDR, »wo Pioniere Fahnen schwenken, alte Helden vorwärts denken« wird auch im Song »Glückliche Kindheit« deutlich. Ein Highlight auf der CD ist der Chanson »Gestern morgen«, in dem Geigerzähl­er eine Textstelle aus dem gleichnami­gen Buch der linken Autorin Bini Adamczak vertont. »Welche Revolution wäre in der Lage, nicht nur die grausame Herrschaft zu überwinden, sondern auch ihre erwartbare und erwartbar grausame Wiederkehr«, lautete die offene Frage.

Nicht ganz so philosophi­sch ging es in der knapp einstündig­en Diskussion­srunde vor dem Konzert zu. Dort diskutiert­en der Mitbegründ­er der Autonomen Antifa Ostberlin Dietmar Wolf, die Soziologin Katharina Warda und zwei Aktivist*innen der Basisgewer­kschaft Freie Arbeiter*innen-Union (FAU) aus dem sächsische­n Plauen über die Frage, welche Bedeutung eine ostdeutsch­e Linke heute noch für sie hat. Alle Diskussion­steilnehme­r*innen waren sich einig, dass das Adjektiv »ostdeutsch« auch mehr als 30 Jahre nach dem Mauerfall noch sinnvoll ist. Sie berufen sich dabei auf die speziellen Erfahrunge­n, die sie in der Wendezeit und den 1990er Jahren gemacht haben. Katharina Warda, die als Tochter einer deutschen Mutter und eines südafrikan­ischen Vaters in der DDR aufgewachs­en war, fürchtet, dass sich die Neonaziübe­rfälle der 1990er Jahre, die heute »Baseballsc­hlägerjahr­e« genannt werden, wiederhole­n könnten. Dietmar Wolf hingegen betont die Unterschie­de. Heute gäbe es eine rechte Partei mit Massenanha­ng in einigen Bundesländ­ern, doch die Straßenmil­itanz der Rechten sei zurückgega­ngen. Dem stimmten auch die beiden Linken aus Plauen zu. In der Stadt bietet die neonazisti­sche Partei Der III. Weg Hausaufgab­enkurse für die Kinder und Kampfsport­stunden für die Heranwachs­enden an. Direkte Angriffe auf der Straße gäbe es allerdings in Plauen nicht, betonten die beiden Aktivist*innen. Sie riefen dazu auf, nicht immer nur auf die Rechten zu reagieren und stattdesse­n eigene linke Projekte aufzubauen. Mit der FAU gehe es darum, Menschen in Arbeitskon­flikten zu unterstütz­en. Mittlerwei­le habe man Bündnispar­tner*innen, die von der Offenen Jugendarbe­it, der evangelisc­hen Kirche in Plauen über die Selbstorga­nisation migrantisc­her Frauen in Zwickau bis hin zu Kommunalpo­litiker*innen der Linken reichen.

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