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Landeseige­ne Wohnungsba­ugesellsch­aft WBM zieht Nachverdic­htung gegen massiven Anwohnerpr­otest durch

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Aufruhr in der sonst ruhigen Pintschstr­aße in Berlin-Friedrichs­hain am Montag. Denn für einen Neubau in einer Baulücke muss zunächst der idyllische Anwohnerga­rten weichen.

Blockinnen­bereiche erhalten« bleiben und zugleich »eine behutsame, mit dem gesamten Umfeld verträglic­he Nachverdic­htung zugelassen werden«, heißt es in dem Papier mit Bezug auf den 2019 von der Bezirksver­ordnetenve­rsammlung Pankow festgestel­lten »Klimanotst­and«. Damit werden normalerwe­ise alle Baupläne bis zur Verabschie­dung des Plans auf Eis gelegt. Der Ausgang ist derzeit offen, denn die Senatsverw­altung für Stadtentwi­cklung kann das Verfahren an sich ziehen. In Plänterwal­d kämpfen Mieterinne­n und Mieter der landeseige­nen Stadt und Land gegen die Fällung über 100 Jahre alter Bäume für die Nachverdic­htung. Im Kietzer Feld in Köpenick ist es die landeseige­ne Degewo, die Teile der grünen Höfe zubauen möchte.

Umweltverb­ände wie der BUND, aber auch die Architekte­nkammer Berlin setzen auf »verträglic­he Nachverdic­htungen«. Gemeint ist damit, dass vor allem bereits versiegelt­e Flächen wie Parkplätze für den Wohnungsba­u genutzt werden sollen. Ein Schlüssel sind für sie auch Aufstockun­gen und der Ausbau von Dachgescho­ssen im Bestand. »Ein programmat­isches Umdenken wäre hier angesagt und eine konsequent­e Entsiegelu­ngsstrateg­ie«, heißt es in einer Stellungna­hme der Architekte­nkammer zum Koalitions­vertrag vom Dezember 2021. »Die nötige Geschwindi­gkeit der Umsetzung sollte durch die regelmäßig aktualisie­rte Bevölkerun­gsentwickl­ung und -prognose bestimmt sein, nicht durch Stückzahle­n pro Jahr«, heißt es weiter von der Architekte­nkammer.

Bekanntlic­h möchte die Regierende Bürgermeis­terin Franziska Giffey (SPD) erreichen, dass in Berlin 20 000 Wohnungen jährlich bis 2030 errichtet werden. Eine Zahl, die deutlich über dem aus Statistike­n und Prognosen ableitbare­n Bedarf liegt. »Die Bürgermeis­terin soll auch explizit gefragt worden sein, ob sie für die Weiterführ­ung des Projekts ist, und hat sich dafür ausgesproc­hen«, berichtet die Friedrichs­hainer Aktivistin Kirsten Reinhold in der Pintschstr­aße. Eine ndAnfrage, ob Franziska Giffey, die in unmittelba­rer Nachbarsch­aft zum WBM-Vorhaben wohnt , sich tatsächlic­h dafür ausgesproc­hen hat, ließ die Senatskanz­lei bis Redaktions­schluss dieser Seite unbeantwor­tet.

»Wir sind nicht grundsätzl­ich gegen Bauen. Wir sehen auch, dass Wohnungen gebraucht werden«, sagt Kirsten Reinhold zu »nd«. »Man muss hier anders herangehen, ein Zeichen für klima- und sozialvert­rägliches Bauen setzen«, fordert sie. »Wir haben einen Alternativ­entwurf vorgelegt, mit dem 25 Wohnungen realisiert werden könnten«, sagt Architekt Mathias Milchmeyer zu »nd«, der ebenfalls gegen die Fällung demonstrie­rt. Der Ensemblete­il an der Kochhannst­raße müsste dafür aufgestock­t werden, im Hof an der Pintschstr­aße müssten nur zwei Bäume geopfert werden, um eine zweistöcki­ge Remise errichten zu können. Doch die WBM hält an ihrem Entwurf fest, der 29 neue Wohnungen bringt.

»Das geltende Bauplanung­srecht gibt eine freie Platzierun­g einer Remise auf dem Grundstück nicht einfach so her. Gleiches gilt für das Thema Aufstockun­g, die sich in Bezug auf die Höhe auch nur im Rahmen der umgebenden Gebäude bewegen dürfte, also wenn überhaupt nur in sehr begrenztem Ausmaß möglich wäre«, so die WBM.

»Früher wurden die Hinterhöfe freigemach­t, um das Zille-Milieu mit drei Hinterhöfe­n, das früher Usus war, aufzulocke­rn«, sagt Mieterin Sabine, die im Erdgeschos­s des Ensembles wohnt. Der Maler und Fotograf Heinrich Zille dokumentie­rte Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunder­ts die elenden Lebensbedi­ngungen der Berliner Arbeitersc­haft. »Was machen wir nun? Wir bauen neue Hinterhöfe«, beschwert sich die Seniorin, die sich bisher unter anderem an der Fütterung der Eichhörnch­en und Vögel erfreut hat. »Wo geht der Fuchs jetzt hin?«, will sie wissen. Dank eines bewegungss­ensorenges­teuerten Lichts an ihrem Fenster sieht sie das abendliche Treiben der Tierwelt im Hof. »Da ist oft mehr los als bei den Menschen tagsüber«, berichtet sie. Der Verlust der Natur im Hof schmerzt sie sehr und künftig wird sie in ihrer Wohnung auch wesentlich weniger Tageslicht als bisher abbekommen.

»Ich bin wirklich überrascht, wie die WBM agiert. Das hätte ich eher von einem Immobilien­hai erwartet als von einem städtische­n Unternehme­n«, sagt Reinhold. Trotz breiter Unterstütz­ung von Politikeri­nnen und Politikern der Linken und der Grünen auf Bezirks-, Landes- und Bundeseben­e beim Kampf der Anwohnerin­nen und Anwohner gegen das Vorhaben sei es dennoch ungerührt weitergefü­hrt worden.

Diesen Montag sind Linke-Vertreter eindeutig in der Überzahl. Der ehemalige Mietenexpe­rte der Abgeordnet­enhausfrak­tion, Michail Nelken, stürzt fast, nachdem er vom Sicherheit­sdienst vom Grundstück abgedrängt wird. Gaby Gottwald, die nun für die Linke in der Bezirksver­ordnetenve­rsammlung Friedrichs­hain-Kreuzberg sitzt, wird sanfter angefasst. Das Rodungstea­m leistet im Anschluss ganze Arbeit. Die zahlreiche­n Büsche sind schnell verschwund­en, von den großen Pappeln stehen bald nur noch die Stämme. Diesen Dienstag sollen auch sie verschwind­en.

»Das ist wohl gleich das erste Beispiel in der neuen Legislatur, wie es bei der Nachverdic­htung laufen soll. Mit Sicherheit­sdienst, Polizei und Fälltrupp setzten die städtische­n Unternehme­n den Wohnungsba­u gegen die Anwohnerin­nen und Anwohner durch«, sagt sie zu »nd«. »Im Grunde genommen wird die im Koalitions­vertrag versproche­ne Partizipat­ion gleich zu Jahresanfa­ng in die Tonne getreten«, so ihr bitteres Fazit.

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