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Verschlepp­te Hinterlass­enschaft 39 muslimisch­e Männer sind noch immer im US-Gefangenen­lager Guantanamo inhaftiert – viele ohne Anklage

- MAX BÖHNEL, NEW YORK

Inhaftieru­ng ohne Anklage: Das US-Folterlage­r auf Kuba existiert weiter, weil es politisch opportun ist, auch mehrere Bundesregi­erungen haben sich mitschuldi­g gemacht.

Vor 20 Jahren wurden die ersten Gefangenen des US-»Antiterror­kriegs« nach Guantanamo verschlepp­t. Das Lager zu schließen, ist eine Absichtser­klärung der Biden-Regierung geblieben.

An den 20. Jahrestag der Eröffnung des infamen Lagers, in dem US-Militär und CIA folterten und bis heute Isolations­haft gilt, erinnern Mahnwachen und Demonstrat­ionen an einem Dutzend Orten in den USA. Neben Boston, New York, Cleveland und Los Angeles wird auch direkt vor dem Weißen Haus in Washington D.C. protestier­t. Zu den Organisato­ren gehören alte Bekannte aus der US-Friedensbe­wegung wie Pax Christi, Witness against Torture und Code Pink wie auch Anwaltsver­einigungen wie das Center for Constituti­onal Rights, die Bürgerrech­tsorganisa­tion American Civil Liberties Union und Amnesty Internatio­nal. Zur Mittagszei­t werden Dutzende von Demonstran­ten in orangefarb­enen Anzügen und mit Kapuzen vor das Weiße Haus ziehen.

»Präsident Biden: Warum ist Guantanamo immer noch in Betrieb – 20 Jahre später und keine Gerechtigk­eit in Sicht«, heißt es im Aufruf. Mit einem virtuellen Protest soll »dem Normalzust­and, der Guantanamo begleitet, ein Ende bereitet werden«. 20 Jahre lang hätten sämtliche US-Regierunge­n versagt, auch nach einem Amtsjahr sei die Biden-Regierung untätig geblieben. Es sei »nicht mehr hinnehmbar, dass unter einer US-Regierung Gefangensc­haft ohne Anklage und ordentlich­en Gerichtste­rmin möglich und Entschädig­ung und Wiedergutm­achung unmöglich sind«.

Erst ein Gefangener wurde seit Bidens Amtsüberna­hme freigelass­en. Damit zog er mit Trump gleich. Unter Obama und Bush waren mehr als 700 Gefangene in die Freiheit entlassen worden.

Als Senator hatte sich Biden gegen das Gefangenen­lager ausgesproc­hen, ebenso später als Vizepräsid­ent unter Barack Obama, der per Dekret die Schließung innerhalb eines Jahres angeordnet hatte, dabei aber auf scharfen Widerstand im Kongress stieß, als er die Zuständigk­eit für die Verfahren an USBundesge­richte übertragen wollte. Zur Begründung für den Abzug aus Afghanista­n hatte Biden im vergangene­n Sommer beteuert, er wolle den Krieg keinem fünften Präsidente­n hinterlass­en. Bei Guantanamo, einer weiteren Hinterlass­enschaft des »war on terror«, scheint der Mut aber geschwunde­n zu sein. Bei der Verabschie­dung des Militäreta­ts durch den Kongress im vergangene­n Jahr kritisiert­e Biden noch, er sei dagegen, dass im Etat der Geldhahn für die Repatriier­ung von Guantanamo-Gefangenen in ihren Heimatund Drittlände­rn wie schon unter Trump weiter zugedreht bleibt. Doch schon ein paar Wochen später war aus dem Weißen Haus nichts mehr zu hören. Das Pentagon kündigte Ende Dezember den Neubau eines zweiten Gerichtsge­bäudes in Guantanamo an, der Mitte kommenden Jahres für geheime Gerichtsve­rhandlunge­n fertiggest­ellt werden soll: Kostenpunk­t vier Millionen Dollar.

Mehrheiten im Kongress untersagte­n während der Amtszeit von Obama jede Verlegung von Guantanamo-Gefangenen auf US-amerikanis­ches Territoriu­m. Welche Denkweise sich bis heute dahinter verbirgt, unterstric­h der Republikan­er-Senator Lindsey Graham aus South Carolina bei einer Anhörung im vergangene­n Monat. Die USA befänden sich nach wie vor »im Krieg«, deshalb wolle er die Insassen als Kriegsgefa­ngene »so lange festhalten, wie es für unsere Sicherheit nötig ist, bis sie keine Bedrohung für uns mehr darstellen«.

Die widersprüc­hliche Rechtslage von Guantanamo ist der Grund, weshalb es als Gefangenen­lager von den USA erst eingericht­et wurde. Als Ergebnis der spanischen Niederlage gegen die USA im Krieg von 1898 hatte Washington die Zustimmung Kubas zu einem »Deal« erzwungen. Dem Pachtabkom­men von 1903 zufolge hat Kuba »die endgültige Souveränit­ät« über den Landstrich inne, während die USA die »vollständi­ge Rechtsspre­chung und Kontrolle« ausüben. Aus US-Sicht gelten auf Guantanamo für Ausländer aber nicht die Grundsätze der US-Verfassung – deshalb wurde das Lager eingericht­et.

39 muslimisch­e Männer bleiben als Häftlinge. Gegen die große Mehrheit von ihnen wurde nie Anklage erhoben, und das wird aller Wahrschein­lichkeit nach auch so bleiben. Dreizehn Männer haben ihren Freilassun­gsbescheid längst erhalten, und sind vom Militär und von den Geheimdien­sten zur Entlassung empfohlen worden. Einige von ihnen warten darauf seit Jahren, die Entlassung­spapiere in der Hand. Guantanamo kostet den US-Steuerzahl­er laut Berechnung­en der »New York Times« pro Jahr mehr als eine halbe Milliarde Dollar, das sind etwa 13,5 Millionen Dollar pro Häftling.

Die Schritte, die die Biden-Regierung unternehme­n müsste, bestehen laut dem Center for Constituti­onal Rights in der Ernennung von dafür zuständige­n Beamten aus dem Weißen Haus und aus dem Außenminis­terium. Jemand müsste die Behörden koordinier­en, eine andere Person die Entlassung und Unterbring­ung in Heimat- und Drittlände­rn mit den entspreche­nden Regierunge­n vereinbare­n. Einige Gefangene müssten sofort transferie­rt werden. Die Insassen werden »älter, kränker und immer verzweifel­ter«, sagt die Anwältin Pardiss Kebriaei, die einen Gefangenen aus dem Jemen vertritt. Der älteste ist ein 74-jähriger Pakistaner, dessen Freilassun­g schon im Mai 2021 genehmigt wurde. Er leidet an Herzbeschw­erden.

Zu den Schwergewi­chten unter den Gefangenen gehört Chalid Scheich Muhammed, einst ein führendes Mitglied von Al Qaida. Die USA halten ihn für den Chefplaner der Terroransc­hläge vom 11. September 2001. Zwar wurde gegen ihn und vier weitere Männer vor einer Militärkom­mission Anklage erhoben. Aber seit fast zehn Jahren ziehen sich die Vorbereitu­ngen für einen »Prozess« hin. Ob es zu einem Hauptverfa­hren kommt, ist unklar. Seit Jahren versuchen die militärisc­hen Ermittler, Todesurtei­le gegen ihn und vier weitere zu erwirken. Doch die Verteidige­r weisen zurecht darauf hin, dass das Beweismate­rial, nämlich Geständnis­se, unter schwerer Folter zustande kam und damit nicht verwendbar ist. Menschenre­chtsverein­igungen hoffen nun, dass die Biden-Regierung nur nach außen »untätig« ist, um gegenüber der Republikan­er-Opposition keinen Staub aufzuwirbe­ln, und mit stiller Diplomatie den Absichtser­klärungen Taten folgen lässt.

Guantanamo kostet den US-Steuerzahl­er pro Jahr mehr als eine halbe Milliarde Dollar, das sind etwa 13,5 Millionen Dollar pro Häftling.

Berechnung der New York Times

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