Milliardengewinn mit Heilkräutern
Einwohner Shanghais wurden im Lockdown mit traditionellen Medizinprodukten versorgt – gegen Covid helfen sie nicht
Peking propagiert traditionelle Medizin bei der Heilung von Covid-Infektionen. Wissenschaftlich sind die Kräutermischungen umstritten, doch wirtschaftlich locken satte Gewinne.
Als die chinesischen Behörden kürzlich Shanghai abriegelten, klagten die Leute schon bald über den Zusammenbruch der Lebensmittelversorgung. Doch während frisches Gemüse und Speiseöl nur sporadisch angeliefert wurden, erhielten alle der knapp 26 Millionen Einwohner eine Kräutermischung aus Süßholzwurzeln und Aprikosensamen. »Lianhua Qingwen« heißt das kapselförmige Wundermittel. Es fällt unter das Sammelspektrum TCM – kurz für: traditionelle chinesische Medizin.
Die TCM-Arzneimitteltherapie verwendet außer Heilpflanzen in seltenen Fällen auch Mineralien und tierische Bestandteile. Die Patienten erhalten in der Regel komplexe, individuell erstellte Rezepturen verabreicht.
Auch Zoe Zong und ihre vier WG-Mitbewohnerinnen haben sechs Packungen »Lianhua Qingwen« bekommen. »Tatsächlich haben wir die Medikamente nicht geschluckt, denn laut den sozialen Medien, denen ich folge, helfen sie weder dabei, CovidSymptome zu heilen, noch, eine Infektion zu verhindern«, sagt die Mittzwanzigerin, die in Shanghai seit über drei Wochen in ihrer Wohnung eingesperrt ist. »Wir denken, dass die Regierung sich besser auf die wirklich wichtigen Bedürfnisse der Leute fokussieren sollte.«
Mit ihrer Skepsis steht die Chinesin nicht allein da. »Lianhua Qingwen« ist durchaus umstritten. So haben etwa die Gesundheitsbehörden in Singapur das Mittel für die Behandlung von Covid nicht zugelassen, da es keine wissenschaftliche Evidenz für dessen Wirksamkeit gebe. »Wir raten der Öffentlichkeit dringend, nicht auf unbegründete Behauptungen hereinzufallen oder Gerüchte zu verbreiten, dass pflanzliche Produkte zur Vorbeugung oder Behandlung von Covid-19 verwendet werden können«, hieß es von der südasiatischen Behörde. Ähnliche Warnungen kamen auch von offizieller Seite aus den USA und Australien.
Doch in China wird weiterhin an der umstrittenen Praxis festgehalten. Und das hat nicht zuletzt auch wirtschaftliche Gründe: Als im Zuge der Omikron-Welle sämtliche Einwohner Hongkongs mit »Lianhua Qingwen« versorgt wurden, gingen die Aktienkurse
des Unternehmens Yiling Pharmaceutical durch die Decke. Das Vermögen der Gründerfamilie um den 73-jährigen Wu Yiling stieg plötzlich um viereinhalb Milliarden Dollar an.
Wu, der zu den 500 reichsten Menschen weltweit gilt, brachte »Lianhua Qingwen« bereits im Zuge der Sars-Epidemie 2003 auf den Markt. Damals wurde er von der Kommunistischen Partei in die politische Konsultativkonferenz gewählt. 2009 schließlich wurde er Mitglied der Chinesischen Akademie der Ingenieurswissenschaften – die höchste Ehre, die man als Wissenschaftler in der Volksrepublik China überhaupt erreichen kann.
Seit der Corona-Pandemie hat die Regierung nun ihr Interesse an TCM wiederentdeckt. Bereits 2020 nutzten die Covid-Spitäler in Wuhan Kräutermischungen bei der Behandlung von Infizierten. Die englischsprachigen Staatsmedien Chinas preisen die Praxis auch international an und vermarkteten sie insbesondere im globalen Süden als kostengünstige Alternative zu westlicher Medizin.
Laut Angaben der Weltgesundheitsorganisation macht der Markt für traditionelle chinesische Medizin bereits über 60 Milliarden
Dollar aus. »Die Idee hinter der Förderung dieses medizinischen Markts ist es, dass einige hochwirksame Medikamente schließlich zum Teil des Mainstreams für ärztliche Behandlung werden – nicht nur im Inland, sondern auch international«, sagt David Palmer, Soziologe an der Universität Hongkong.
Doch im Fall von »Lianhua Qingwen« stößt dies auf beachtliche Kritik, auch innerhalb Chinas. Zum einen wird auf Nebenwirkungen wie Schäden an Leber und Nieren hingewiesen. Zudem haben mehrere Wissenschaftler angekreidet, dass die systematische Auslieferung der Kräutermischungen an Millionen Menschen im Lockdown die ohnehin angespannten Lieferkapazitäten zusätzlich belasten würden.
Immerhin hat das umstrittene Medikament den Segen von Chinas führendem Epidemiologen erhalten: Zhong Nanshan, der als eine Art chinesischer Christian Drosten gilt und von Staatspräsident Xi Jinping zuletzt gar den »Orden der Republik« erhalten hat. Was der 85-jährige Wissenschaftler jedoch verschwiegen hat: dass seine Stiftung vom TCM-Produzenten Yiling Pharmaceutical Gelder in Höhe von umgerechnet über 200 000 Euro erhalten hat.