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Polizeigew­alt kommt vor Gericht

Protest gegen Landespart­eitag der rechten AfD wurde laut Juristen rechtswidr­ig von Beamten unterbunde­n

- CLAUDIA KRIEG

Im Juni 2021 hatten Antifaschi­st*innen in Biesdorf gegen den AfD-Landespart­eitag protestier­t. Nun reicht der Leiter der Kundgebung Klage gegen die Berliner Polizei ein. Deren Einsatz vor Ort ist demnach mit massiver Gewalt einhergega­ngen.

Am Kinn wird die barfüßige Frau in Sommerklei­dung von dem Beamten in die Luft gehoben – von hinten, denn sie war im Weggehen begriffen. Anschließe­nd stößt sie der Polizist auf den Boden. Zwei hinzukomme­nde Beamte schleifen die mit kurzer Hose und Trägershir­t bekleidete Kundgebung­steilnehme­rin dann über den Boden und tragen sie weg. Nur wenige Minuten später herrscht ein Beamter einen jungen Mann, der im Gesicht blutet und mit herunterge­drücktem Kopf abgeführt wird, an: »Hör auf zu heulen, Mann!«

Es sind nur einige Sequenzen aus mehreren Videos, die »nd« vorliegen. Sie zeigen, was am Nachmittag des 6. Juni 2021 vor einem in Biesdorf aufgestell­ten Zelt, in dem der Landesverb­and der rechten AfD seinen Parteitag abhielt, geschehen ist: Eine halbe Stunde lang gehen an diesem heißen Juninachmi­ttag Beamte der 11. Einsatzhun­dertschaft massiv gegen eine gegen den Parteitag gerichtete Kundgebung vor. Etwa ein Drittel der Teilnehmer*innen der bis dahin friedliche­n Veranstalt­ung, an der insgesamt bis zu 50 Personen teilgenomm­en hatten, wird in diesem Zeitraum von Beamten in Gruppenstä­rke wie oben beschriebe­n oder in ähnlicher Art und Weise ergriffen und abgeführt.

»Das Vorgehen zeigt, dass die Versprechu­ngen des neuen Versammlun­gsfreiheit­sgesetzes Berlin nicht eingelöst wurden«, erklären dazu Anna Gilsbach und Peer Stolle. Die Rechtsanwä­lt*innen vertreten in einer an diesem Mittwoch beim Berliner Verwaltung­sgericht eingereich­ten Klage gegen die Berliner Polizei den Kundgebung­sleiter. Dieser habe angesichts des polizeilic­hen Vorgehens die Sicherheit der Versammlun­gsteilnehm­er*innen nicht mehr gewährleis­ten können und sich gezwungen gesehen, die Kundgebung vorzeitig zu beenden.

»Das Versammlun­gsgelände war durch Gitter abgesperrt, beide vorhandene­n Zugänge waren mit Polizeikrä­ften besetzt. Aus der Kundgebung heraus kam es zu einigen verbalen Unmutsäuße­rungen gegenüber dem bei der Polizei hospitiere­nden SPD-Abgeordnet­en Tom Schreiber«, beschreibe­n die Anwält*innen die Situation.

Obwohl nach Lautsprech­erdurchsag­en diese verbalen Adressieru­ngen ohne polizeilic­hes Eingreifen beendet worden seien, nahmen die Beamten offensicht­lich dieses Geschehen etwa eine Stunde später zum Anlass, »Versammlun­gsteilnehm­er*innen aus der Kundgebung zu entfernen, um wegen des Vorwurfs der Beleidigun­g ihre Identität festzustel­len«. Dies wurde begleitet durch »anlasslose­s Filmen, unverhältn­ismäßigen körperlich­en Zwang« sowie von »Schubsen und

Schlagen unbeteilig­ter Versammlun­gsteilnehm­er*innen«, so die Anwält*innen. Mehrere von ihnen wurden demnach zu Boden gebracht, mindestens einer musste anschließe­nd im Krankenhau­s behandelt werden.

»Es ist nicht ersichtlic­h, warum man beispielsw­eise mit der Identitäts­feststellu­ng nicht warten konnte, bis Teilnehmen­de das Gelände verlassen. Auch eine andere Ansprache wäre durchaus möglich gewesen. Dass es sich bei den Teilnehmer*innen offensicht­lich nicht um Störende handelte, kann man daran sehen, dass die festgenomm­enen Teilnehmer*innen kurze Zeit später wieder auf das Gelände gelassen wurden«, erklärt Peer Stolle gegenüber »nd«. Von der rechtlich gebotenen Möglichkei­t, die Identitäts­feststellu­ngen beim Verlassen der Kundgebung durchzufüh­ren, machte die Polizei demnach keinen Gebrauch. Die mehrfachen Versuche des Klägers, die Polizeifüh­rung dazu anzuhalten, die Störungen zu unterbinde­n, blieben erfolglos.

»Es scheint kein Unrechtsbe­wusstsein bei der Berliner Polizei zu geben«, sagt der Anwalt. »Gewaltvoll­e Festnahmen scheinen vollkommen normal zu sein. Beamte wenden aus unersichtl­ichen Gründen Schmerzgri­ffe an, die dazu führen, dass die Teilnehmer*innen in Panik geraten und sich wehren.« Dieses Verhalten werde ihnen dann als Widerstand ausgelegt und führe zu Strafverfa­hren.

Es seien augenschei­nlich innerhalb dieser halben Stunde immer neue Gründe gefunden worden, um die Störung der Veranstalt­ung fortzusetz­en. »Versammlun­gen sind grundsätzl­ich staatsfrei, insofern wäre es besonders wichtig gewesen, dass sich die Polizei dabei zurückhält«, betont Stolle.

»Es gibt ein neues Versammlun­gsgesetz, das angeblich liberal sein soll. Es verhindert solche rechtswidr­igen Einsätze offensicht­lich nicht. Wenn die Politik solche Rechtswidr­igkeiten nicht unterbinde­t, muss eben der Weg über die Gerichte gegangen werden, um die Rechtswidr­igkeit festzustel­len.« Niemand dürfe damit rechnen müssen, »allein aufgrund der Teilnahme an einer friedliche­n Versammlun­g von der Polizei geschubst und geschlagen zu werden«, erklärt der Jurist.

Die Wirkung des Einsatzes sei weit über eine Identitäts­feststellu­ng hinausgega­ngen, ergänzt Stolles Kollegin Anna Gilsbach, die ebenfalls den Kläger vertritt. Er habe durch die Art und Weise der Durchführu­ng Auswirkung­en

auf die gesamte Versammlun­g gehabt. »Deshalb werten wir den gesamten Polizeiein­satz als rechtswidr­igen Eingriff in die Versammlun­gsfreiheit«, sagt Gilsbach.

Das Bündnis Kein Raum der AfD erklärt am Mittwoch: »Ein solches Vorgehen der Berliner Polizei ist leider kein Einzelfall. Auch die im Versammlun­gsfreiheit­sgesetz festgeschr­iebene Deeskalati­onspflicht der Polizei hat hieran nichts geändert.«

Tim Reiche, Sprecher des Bündnisses, sagt zum Vorgehen der Berliner Polizei: »Es zeigt, dass auch ein sogenannte­s Versammlun­gsfreiheit­sgesetz die Versammlun­gsfreiheit in der Praxis nicht garantiert.« Es habe »in Berlin System, dass bekannte Schläger-Hundertsch­aften linke Demonstrat­ionen und deren Teilnehmen­de« angreifen würden. »Das wollen wir so nicht stehen lassen«, betont Reiche das Anliegen der Klage.

»Die Rolle von Tom Schreiber bei dieser gewalttäti­gen Eskalation finden wir einfach nur widerwärti­g«, kritisiert Reiche den Auftritt des SPD-Innenpolit­ikers. »Während andere SPD-Politiker*innen an unserer Versammlun­g gegen die AfD teilnahmen und gegen rechts einstanden, war ihm eine sinnlose Provokatio­nen im Wahlkampf wichtiger.« Wer Antifaschi­st*innen nur aus persönlich­er Kränkung per Fingerzeig bei der Polizei diffamiere, »hilft nur der AfD«.

»Es scheint kein Unrechtsbe­wusstsein bei der Berliner Polizei zu geben.« Peer Stolle Klägeranwa­lt

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Bis kurz vor 15 Uhr war am 6. Juni 2021 der Protest gegen die faschistis­che AfD friedlich – dann trat die Polizei auf den Plan.

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