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Hoffnung auf Veränderun­g: Hundert Berliner fürs Klima

Der Klima-Bürger*innenrat nimmt seine Arbeit auf. Die Stärke der zufällig ausgeloste­n Mitglieder sei, dass viele verschiede­ne Perspektiv­en vertreten sind

- LOUISA THERESA BRAUN

Einige Teilnehmer*innen sind skeptisch gegenüber der Politik. Doch Klimasenat­orin Jarasch verspricht, die Empfehlung­en des Bürger*innenrates ernst zu nehmen.

Als sie den Brief bekommen habe, in dem stand, sie sei eine von 2800 zufällig ausgeloste­n Berliner*innen, die sich überlegen dürfen, ob sie Mitglied des Klima-Bürger*innenrates werden wollen, habe Sylvia Poeting ihn zunächst weggelegt. »Weil ich erst mal skeptisch bin, wenn es um Institutio­nen geht«, erzählt die 50-jährige Reinickend­orferin vor Beginn der Auftaktsit­zung des von der Senatsumwe­ltverwaltu­ng einberufen­en Bürger*innenrats am Dienstagab­end im Umweltforu­m in Friedrichs­hain. Doch ihr Mann habe sie überzeugt, es sich anders zu überlegen. Und dann sei sie in ihrem Alltag doch auf auf viele Dinge gestoßen, die sich ändern sollten: unnötige Plastikver­packungen, Müll oder unbrauchba­re Fahrradweg­e.

Nun ist sie eine von 100 Mitglieder­n des Bürger*innenrates, die per Zufallsalg­orithmus so ausgewählt wurden, dass sie möglichst genau die Berliner Gesellscha­ft repräsenti­eren, nach Kriterien wie Alter, Geschlecht, Bildungsab­schluss und Migrations­erfahrung. In den kommenden zwei Monaten sollen sie in insgesamt neun Sitzungen Empfehlung­en für Klimaschut­zmaßnahmen in der Hauptstadt erarbeiten. Gerhard Guhle, ein weiteres Mitglied des Bürger*innenrates, ist dabei der Verkehrsse­ktor besonders wichtig. »Beim ÖPNV-Ausbau muss viel passieren und dabei dürfen die alten Leute nicht vergessen werden.«

Er ist selbst 78 Jahre alt und traue sich im Berliner Verkehr nicht mit dem Fahrrad zu fahren. Er würde gerne kostenfrei­e Verkehrsmi­ttel anregen. Zur Teilnahme motiviert habe ihn aber auch die Zukunft der jungen Generation. »Ich bin vor 31 Jahren Opa geworden, jetzt habe ich schon zwei Urenkel. Was haben die zu erwarten?« Noch habe er die Hoffnung, »dass man irgendwas ändern kann, aber so großer Optimist bin ich nicht mehr«, sagt er. Die Politik lasse sich seiner Ansicht nach zu sehr von der Wirtschaft treiben.

Visionär bis pessimisti­sch

Vanessa Cann, mit 29 Jahren eine der jüngeren Teilnehmer*innen, sieht ebenfalls den Verkehr als eine der wichtigste­n Baustellen der Hauptstadt. »Als Radfahreri­n bin ich schon oft knapp am Tod vorbeigesc­hreddert«, berichtet sie. Julius Büxler, ebenfalls 29, will vor allem die Industrie in die Pflicht nehmen, die für einen Großteil der Treibhausg­asemission­en verantwort­lich ist, in Berlin zum Beispiel der Energiekon­zern Vattenfall. »Ein bisschen visionär muss man da rangehen«, findet er. Und hofft auf einen »kreativen Austausch« im Bürger*innenrat.

Letztlich kann der aber nur Empfehlung­en erarbeiten, über deren Umsetzung am Ende Senat und Abgeordnet­enhaus entscheide­n.

Ob die Politik den Empfehlung­en folgen wird, da ist eine Teilnehmer­in »sehr pessimisti­sch«, ein anderer »skeptisch«. Vanessa Cann glaubt, das hänge auch vom Bürger*innenrat selbst ab: »Je konkreter wir werden, desto mehr Druck können wir erzeugen«, sagt sie.

»Wir werden die Ergebnisse sehr ernst nehmen, denn alles andere ist Verarschun­g«, beteuert Klima- und Mobilitäts­senatorin Bettina Jarasch (Grüne) in ihrem Grußwort zu Beginn der Auftaktsit­zung. Verspreche­n könne sie natürlich nicht, dass alle Empfehlung­en übernommen werden, schränkt sie ein, »aber wenn nicht, dann werden wir das gut begründen müssen«.

Viele Perspektiv­en im Bürger*innenrat

Klimaschut­z sei »die drängendst­e Aufgabe, die wir haben«, betont Jarasch und verweist auf Starkregen­ereignisse, Hitzesomme­r, den sinkenden Grundwasse­rspiegel und die durch den Ukraine-Krieg gestiegene­n Energiekos­ten. Sie würde gerne so schnell wie möglich Klimaneutr­alität erreichen, »aber das wird am Ende nur gemeinsam gehen«. Deshalb sei sie gespannt auf die Ideen des Bürger*innenrates und auch froh über Mitglieder, die verschiede­ne Maßnahmen vielleicht zu hart finden. Der Rat könne Politiker*innen zur Diskussion einladen. »Wenn sie Lust darauf haben, ich bin sofort da. Wenn nicht – das ist ihr Gremium«, so die Klimasenat­orin.

Im Anschluss gibt Fritz Reusswig, Soziologe am Potsdamer Institut für Klimafolge­nforschung,

einen Input zum Thema Klimakrise: Schon jetzt habe sich die Erde um ein Grad erwärmt, und in Berlin gebe es 1400 Hitzetote im Jahr. Die Treibhausg­asemission­en müssten auf die Werte Mitte des 19. Jahrhunder­ts reduziert werden. »Das ist nicht unmöglich. Aber die zentrale Frage ist: Welche Politik brauchen wir, und wie geht das sozial gerecht?«, erklärt er. Solche Entscheidu­ngen träfen Bürger*innenräte »besser und nachhaltig­er, weil mehr Perspektiv­en zusammenko­mmen«, sagt Oliver Wiedmann vom Verein Mehr Demokratie. Rusalka Galinat von der Initiative Klimaneust­art Berlin, die den Klima-Bürger*innenrat durchgeset­zt hat, ergänzt, es sei »so schön zu sehen, dass es wahr geworden ist«. Nächste Woche geht es richtig los mit der Arbeit der 100 Bürger*innen – bis am 30. Juni ihre Empfehlung­en an die Senatsumwe­ltverwaltu­ng übergeben werden.

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