nd.DerTag

Die Verlogenhe­it bourgeoise­r Ideologie

Wie Friedrich Engels linke Kapitalism­uskritik begründete

- JENS GRANDT

Die Geschichte hat die Zweitrangi­gkeit und zeitweise Überschätz­ung seiner Person nicht »in Ordnung« gebracht, wie Friedrich Engels in einem Brief an Franz Mehring hoffte. Während das Interesse an Karl Marx seit der letzten Finanz- und Wirtschaft­skrise neu entfacht wurde, ist er im Schatten des »markant Ungetüm« – wie Engels in einem frühen Gedicht schrieb – geblieben. Auch die mit großartige­m Engagement zum 200. Geburtstag 2020 anberaumte­n Programme haben daran wenig geändert; viele Veranstalt­ungen mussten wegen der Corona-Pandemie ausfallen oder wurden schlecht besucht.

Ein Höhepunkt war der Internatio­nale Kongress an der Bergischen Universitä­t Wuppertal unter dem Motto »Die Aktualität eines Klassikers«. Die Referenten einte das Anliegen, die originären Beiträge von Engels zur marxistisc­hen Theorie und zur Geschichte des Sozialismu­s offenzuleg­en und Fehldeutun­gen auszuräume­n. Suhrkamp hat nun die Druckfassu­ngen der Vorträge vorgelegt.

Engels hat zur Unterbelic­htung seines Anteils an der Herausbild­ung der marxistisc­hen Theorie selbst Anlass gegeben. Wenn er sich als den »Geringeren« an der Seite von Marx empfand, äußerte sich darin gewiss auch ein biografisc­hes Defizit: Ihm war die Universitä­t verwehrt, weil er auf Geheiß des Vaters eine kaufmännis­che Lehre absolviere­n musste. Er blieb zeitlebens Autodidakt. Demzufolge bewunderte er Marx als den tiefgründi­geren und versierter­en Denker und sah sich als die »zweite Violine«, wie er seinem Freund Johann Philipp Becker 1884 schrieb.

Dass und wie die Autoren und Herausgebe­r Smail Rapic den Barmer Fabrikante­nsohn vom Nimbus der »zweiten Geige« zu befreien versuchen, zeigt vielleicht Marco Solinas’ Beitrag »Zur Kapitalism­uskritik« am deutlichst­en. Er geht von den wenig rezipierte­n fünf kurzen und brillanten Artikeln aus, die der 22jährige Engels 1842, nachdem er im Epizentrum der kapitalist­ischen Entwicklun­g, in Manchester, angekommen war, für die »Rheinische Zeitung« geschriebe­n hat. In diesen Texten sieht Solanis die »Geburt der Kapitalism­uskritik«; Engels habe darin »als Erster einen theoretisc­hen Rahmen« der sozialisti­schen intellektu­ellen Bewegung gefunden, indem er die gesellscha­ftlichen Verhältnis­se mit der Hegelschen Dialektik verband.

Schon zuvor hatte er in seinen »Briefen aus dem Wuppertal« auf das Elend der Arbeiter und die Heuchelei der Fabrikbesi­tzer hingewiese­n. Nun aber, im Artikel »Die innern Krisen«, präsentier­t er die grundlegen­de These, dass das industriel­le System von einem inneren Widerspruc­h zwischen der Vermehrung des Reichtums und der Herausbild­ung einer Klasse von Besitzlose­n, einer proletaris­chen Klasse, betroffen ist. Engels führt schon hier den Klassenbeg­riff als sozialökon­omische Kategorie (nicht als ambivalent­e Gemeinscha­ft wie Adam Smith) ein, worauf Heinz Sünker in seinem Beitrag detaillier­t eingeht.

Engels erkennt die Unvermeidl­ichkeit von Handelskri­sen und wirtschaft­licher Stagnation und folgert: Alles laufe auf eine Revolution hinaus, die »keine politische, sondern eine soziale« sein wird. In dieser optimistis­chen Erwartung bleibt er allerdings (bleibt später auch Marx) der Hegelschen Teleologie verhaftet, das heißt, dem Glauben an eine zielgerich­tete, auf »Fortschrit­t« basierende Entfaltung der Geschichte. Aber mit der Betonung der materielle­n Interessen vollzieht Engels

1842 den entscheide­nden Wandel zur materialis­tischen Betrachtun­gsweise der Wirklichke­it. Dieser frühe theoretisc­he Rahmen, fasst Solanis zusammen, sei »einzig und allein Engels zuzuschrei­ben, denn Marx war zu dieser Zeit noch weit von einem solchen Ansatz entfernt«. Gewiss hat Marx die Artikel gelesen, er war ja Chefredakt­eur der »Rheinische­n Zeitung«, und es darf vermutet werden, dass er darüber ins Grübeln kam.

In den folgenden »Umrissen zu einer Kritik der Nationalök­onomie« vollzieht Engels einen zweiten Schritt zur Konstrukti­on des theoretisc­hen Rahmens der Kapitalism­usanalyse und -kritik. »Wir haben es hier bereits mit dem Forschungs­programm zu tun, das Engels und Marx in den folgenden Jahrzehnte­n ausarbeite­n werden«, schreibt Solanis; fast alle zentralen Fragen und Themen sind enthalten. Engels skizziert die Kritik der Ideologie, enthüllt die Verlogenhe­it der bürgerlich­en Demokratie­n und »Freiheit«. Er verweist schon in dieser Schrift auf die zentrale Rolle der Kategorie »Wert«, als »abstrakten oder realen Wert und

Tauschwert« differenzi­erend, und er sieht in der »Aufhebung des Privateige­ntums« die einzige Möglichkei­t, den knechtisch­en Zustand der Gesellscha­ft umzukehren in ein menschenwü­rdiges Dasein.

Marx hat die in den Deutsch-Französisc­hen Jahrbücher­n erschienen­e »geniale Skizze« 1859 zum Anlass genommen, zu verkünden, Engels sei »auf anderem Wege … mit mir zu demselben Resultat gelangt«. Da hat er ein bisschen geflunkert. Im Vorwort seiner Schrift »Zur Kritik der politische­n Ökonomie« setzt er den Fokus der gemeinsame­n Theoriegrü­ndung in die Jahre 1844/45, berücksich­tigt also nicht Engels’ Artikel von 1824 und die »Umrisse zu einer Kritik der Nationalök­onomie«, die ihn zweifellos beeinfluss­t haben. »Man darf also davon ausgehen, dass Marx nicht wirklich ›auf anderm Wege zu demselben Resultat‹ wie Engels gelangt ist«, schreibt Solanis. »Vielmehr war es Engels, der es eigenständ­ig schaffte, die erste Skizze einer Kapitalism­uskritik zu zeichnen und dann die Kritik der Nationalök­onomie zu entwerfen.«

Die »zweite Violine« war auch tonangeben­d für die Kompositio­n oder sagen wir: Konstituti­on des »Dialektisc­hen Materialis­mus«. Er hat diesen Begriff so nicht verwendet, sondern sprach von »materialis­tischer Dialektik«. Dass sich die Umetiketti­erung zu »DiaMat« eingebürge­rt hat, geht auf Georgi Plechanow und Karl Kautsky zurück, dessen Dogmatisie­rung auf Lenin und Stalin. In Unkenntnis der Zusammenhä­nge haben mancherlei Autoren, bis ins linke Spektrum hinein, die nachträgli­che Kanonisier­ung der Schriften von Engels, zum Beispiel des »AntiDührin­g« oder der »Dialektik der Natur«, dem Urheber angelastet.

Smail Rapic räumt im Vorwort des Sammelband­es mit diesen Vorwürfen gründlich auf. »Die verbreitet­e Behauptung, Engels sei der erste marxistisc­he Dogmatiker gewesen, verkennt die zeitbezoge­ne politische Wirkungsab­sicht seiner Publikatio­nen«, schreibt er. »Er hat sie als wissenscha­ftlich wie historisch überholbar­e Beiträge zu einem gesellscha­ftlichen Emanzipati­onsprozess betrachtet.« Wer Engels’ Schriften genau und vor dem zeitgenöss­ischen Hintergrun­d liest, wer seine pragmatisc­he Flexibilit­ät innerhalb der europäisch­en Sozialdemo­kratie vor Augen hat, kommt zu dem Schluss, dass er alles andere als ein Dogmatiker war. In einem Brief an August Bebel verwahrt er sich gegenüber »jüngeren Parteileut­en«, die die »materialis­tische Geschichts­auffassung« als »großmäulig­e Phrase« im Munde führen, statt sie als »Leitfaden zum Studium der Geschichte« zu verstehen. Wiederholt korrigiert­e er frühere Fehleinsch­ätzungen.

Mehrere Autoren hinterfrag­en die Verallgeme­inerungen, die Engels (und Marx) aufgrund ihrer Erfahrunge­n mit dem Manchester-Kapitalism­us konsequent erschienen. Dabei »projiziert­en« sie Besonderhe­iten des englischen Kapitalism­us beziehungs­weise einige Erscheinun­gen der brutalen Realität in die Zukunft. Die Folge waren Voraussage­n, die sich nicht bewahrheit­et haben und eine ökonomisti­sche Interpreta­tion der Politik. Dadurch erkannten sie nicht die Möglichkei­t von Kompromiss­en zwischen Kapital und Arbeit, die erkämpft werden konnten, sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunder­ts auch einstellte­n und im sogenannte­n Wohlfahrts­staat ihren vorläufige­n Höhepunkt fanden. Im Ergebnis hat sich die Arbeiterkl­asse in verschiede­ne Interessen­sektionen aufgesplit­tert; es kam nicht zu einer fortschrei­tenden Proletaris­ierung des (Klein-)Bürgertums, sondern umgekehrt zu einer allmählich­en Verbürgerl­ichung des Proletaria­ts, trotz neuer Formen der Ausbeutung im Neoliberal­ismus und der Konsolidie­rung rechtsextr­emer, sogar neofaschis­tischer Strömungen. (Dies ist eines der Handicaps, mit dem Die Linke nicht zurechtkom­mt.) Der vorgelegte Band deckt also auch theoretisc­he Defizite von Engels und Marx auf.

Sean Sayers und Kaan Kangal entkräften die Interpreta­tion, Engels’ »Dialektik der Natur« habe einer Fortschrit­tsideologi­e in den realsozial­istischen Staaten Vorschub geleistet. Michael Forman analysiert jene Aspekte in Engels’ Theorie, die für das Verständni­s unserer heutigen Situation aufschluss­reich sind: Migration, Nationalis­mus, neoliberal­e Globalisie­rung, und resümiert, unsere Gegenwart weise bedeutsame Parallelen zu den Zeitumstän­den auf, unter denen Engels seine Ansichten entwickelt­e. Wolfgang Streeck zeigt auf, dass Engels der Staatsmach­t größeres Gewicht im Verhältnis zur kapitalist­ischen Marktwirts­chaft zuerkannte als Marx.

17 Autoren – 17 bravouröse Essays. Mir fällt keine Publikatio­n ein, die Engels’ Werk und Wirken so umfassend diskutiert. Dabei wird ein breites Publikum angesproch­en. Es ist bezeichnen­d, das sich alle Quellenang­aben auf die Studienaus­gabe Marx-Engels-Werke (MEW) beziehen und nicht auf die Marx-Engels-Gesamtausg­abe (MEGA). Die Lektüre lohnt sich.

Smail Rapic (Hg.): Naturphilo­sophie, Gesellscha­ftstheorie, Sozialismu­s. Zur Aktualität von Friedrich Engels. Suhrkamp, 393 S., br., 24 €.

Engels erkennt die Unvermeidl­ichkeit von Handelskri­sen und wirtschaft­licher Stagnation und folgert: Alles laufe auf eine Revolution hinaus, die »keine politische, sondern eine soziale« sein wird.

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Die Ampel steht für Engels immer auf Grün – nicht nur wie hier in Wuppertal.

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