nd.DerTag

In der Krise liegt die Chance

Eine bessere Welt nach Corona visioniert ein von D.F. Bertz herausgege­bener Band

- TIM KÖNIG

Wie würden Karl Marx und Friedrich Engels die mit Corona weltweit evident gewordene gesellscha­ftliche Krise beurteilen? Was wären ihre Rezepte zu deren Bewältigun­g, welche Auswege würden sie aufzeigen? Wir wissen es nicht, können nur spekuliere­n. Auf Spekulatio­nen lassen sich die Autoren dieses Bandes nicht ein. Dieser beschreibt und bewertet in einer bisher nicht gekannten Breite und Vielfalt die mit der Pandemie aufgetrete­nen beziehungs­weise verstärkte­n globalen Probleme, seien es die im Gesundheit­swesen, jene von den Lockdowns ausgelöste Weltwirtsc­haftskrise wie auch die Veränderun­gen in der Arbeitswel­t, die sich weiter vertiefend­e Kluft zwischen Arm und Reich, Nord und Süd oder die staatlich sanktionie­rten Eingriffe in Grundrecht­e. Sogar Liebe und Begehren in Zeiten der Pandemie wird thematisie­rt. Aufgezeigt werden neben Gemeinsamk­eiten regionale Unterschie­de in Asien und Afrika, Lateinamer­ika und den USA sowie Europa.

Der Politologe, Verleger und Herausgebe­r D.F. Bertz stellt einleitend klar, dass im Gegensatz zu der allgemeine­n Wahrnehmun­g der Pandemie als ein Schicksals­schlag diese tatsächlic­h keine Naturkatas­trophe sei: »Das Virus und seine Folgen markieren eine weitere Krise der globalen kapitalist­ischen Produktion­sund Lebensweis­e.« Vermutlich sei Covid-19 Ende 2019 auf den Menschen übergespru­ngen. »Und nein, das neue Coronaviru­s wurde nicht in einem chinesisch­en Labor hergestell­t, wie die US-Regierung spekuliert.« Und doch sei es menschenge­macht, verschulde­t durch die kapitalist­ische Wachstumsu­nd Expansions­dynamik, provoziert durch die agrarindus­trielle Zerstörung des Regenwalde­s und anderer Waldbestän­de und begünstigt durch die industriel­le Massentier­haltung und die Züchtung genetische­r Monokultur­en. Resultate der Profitlogi­k. Das konnte man wissen, schon seit der Vogel- und Schweinegr­ippe. Die »neoliberal­e Hypergloba­lisierung«, so Bertz, fördert Viren heute in rasantem Tempo rund um den Erdball, während die mittelalte­rliche Pest für ihren tödlichen Weg von Asien nach Europa noch 30 Jahre benötigt hatte.

Zu spät und zu zögerlich reagierten die Regierunge­n aller Herren Länder auf die Pandemie; Bertz spricht von »Corona-Skeptiker*innen im Staatsappa­rat«. Während es dann aber gelang, die kapitalist­ische Verwertung­sund Exportmasc­hine recht flott wieder auf Hochtouren zu bringen, haben die unterprivi­legierten und marginalis­ierten Gruppen das Nachsehen, ob Leiharbeit­er, Migranten, Obdachlose oder Frauen und Kinder, die verstärkt Opfer von frustriert­er Gewalt wurden. »Das Virus selbst ist klassenbli­nd, es nimmt auch keine ethnischen Zuschreibu­ngen vor«, so Bertz.

Vertiefend­e Ausführung­en folgen in den weiteren über 50 Beiträgen. Der Jurist Rolf Gössner warnt vor einer Normalisie­rung von Ausnahmere­chten allein schon durch Gewöhnungs­effekte, was dem Klassensta­at sehr wohl entgegenkä­me. Gesundheit­sexpertin Julia Dück befasst sich mit der Situation der Krankenhäu­ser und der Zukunft medizinisc­her Versorgung für alle. Sabine Nuss zeigt

Gespür für die Verwundbar­keit der Eigentumsl­osen. Rechte Verschwöru­ngsideolog­ien entlarven Natascha Strobl sowie Ingar Solty und Velten Schäfer. Wie das Virus die Weltwirtsc­haft ins Wanken bringt, ist Thema des Beitrages von Stephan Kaufmann und Antonella Muzzupappa. Auch in den Länderkapi­teln sind »nd«-Redakteure und -Autoren vertreten, mit Ungarn Aert van Riel, mit Vietnam Marina Mai und den USA unter Donald Trump Moritz Wichmann. Erörtert wird ebenso die kontrovers­e Debatte unter Linkn zu Abwehrstra­tegien. Solty von der Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin, ist optimistis­ch, dass die Krise auch eine Chance biete und »aus dem Elend der Gegenwart eine neue, demokratis­chere, sozialere und ökologisch­ere Produktion­sund Lebensweis­e entstehen könnte«. Kurzum, dieser Band macht auch Mut und Lust auf eine bessere »Welt nach Corona«.

D.F. Bertz (Hg.): Die Welt nach Corona. Von den Risiken des Kapitalism­us, den Nebenwirku­ngen des Ausnahmezu­stands und der kommenden Gesellscha­ft. 732 S., br., 24 €.

Newspapers in German

Newspapers from Germany