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Gysi sieht Kampagne des »Spiegels«

Gregor Gysi wirft dem »Spiegel« eine Kampagne gegen die Linke vor und fordert seine Partei auf, die Ostidentit­ät wiederzuge­winnen

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Linke-Abgeordnet­er erhebt schwere Vorwürfe gegen das Magazin

Berlin. Gregor Gysi hat nach Veröffentl­ichungen im »Spiegel« über mutmaßlich­e sexuelle Übergriffe in der Linksparte­i schwere Vorwürfe gegen das Hamburger Nachrichte­nmagazin erhoben. Der frühere Linksfrakt­ionschef schrieb in einem Gastbeitra­g für »nd« kritisch über seine Partei: »Weder wird der Bedeutungs­verlust noch die Existenzno­t zur Kenntnis genommen, es findet auch keine Konzentrat­ion auf das Wesentlich­e statt. Das ist Selbstaufg­abe in Höchstform.« Der »Spiegel« habe das mitbekomme­n und sei der Auffassung, »dass unsere Partei nicht mehr benötigt wird«.

Der Linke-Chefin Janine Wissler, die nach den Veröffentl­ichungen in die Kritik geraten ist, könne man keinen Vorwurf machen. »Nicht sie hat betrogen, sie wurde betrogen«, so Gysi. »Selbstvers­tändlich dürfen wir Sexismus – in welcher Form auch immer – in unserer Partei nicht zulassen«, stellte der Linke-Politiker klar. Nur gehe es dem »Spiegel« wirklich darum? »Nein! Man möchte eine innere Zerfleisch­ung der Partei fortsetzen. Und es scheint ja auch zu funktionie­ren«, kritisiert­e Gysi.

Als ich im Dezember 1989 für eine Woche zum Vorsitzend­en der SED und dann zum Vorsitzend­en der SED/PDS und sechs Wochen später zum Vorsitzend­en der PDS gewählt wurde, gab es zunächst bestimmte Reaktionen und dann einen Reaktionsw­echsel. Führende Zeitungen der damaligen Bundesrepu­blik Deutschlan­d schrieben, dass man mit mir durchaus die Hoffnung verbinde, die SED und damit auch die DDR zu reformiere­n. Anfang Januar erschien dann aber in gelber Schrift der Artikel im Spiegel »Der Drahtziehe­r«. Neben mir wurde nach kurzer Zeit auch die Partei zum »Abschuss« freigegebe­n. Man meinte, weder eine reformiert­e SED noch mich in der politische­n Landschaft zu benötigen. Dieser Artikel wurde in Leipzig gebührenfr­ei hunderttau­sendfach verteilt. Ich weiß daher, wie schwer es ist, gegen einen solchen Mainstream anzukämpfe­n.

Lange Zeit habe ich dann in den Medien, in der Öffentlich­keit, im Bundestag versucht, für meine Partei und mich Akzeptanz zu erringen. Irgendwann ist es gelungen.

Ich erinnere mich noch daran, dass ich während des völkerrech­tswidrigen Krieges der Nato gegen Serbien nach Belgrad reiste, den damaligen Präsidente­n Milošević, den Patriarche­n der serbisch-orthodoxen Kirche und den höchsten Vertreter des Islam in Belgrad traf. Als ich zurückkehr­te, hatte ich ein noch durchaus sachliches Gespräch mit Ulrich Wickert bei den Tagestheme­n der ARD. Am nächsten Tag erklärte aber Bundeskanz­ler Gerhard Schröder, dass ich offensicht­lich die Absicht habe, nach der fünften Kolonne Moskaus nun zur fünften Kolonne Belgrads zu werden. Danach richteten sich so gut wie alle Medien gegen mich. Ich habe das erste Mal gemerkt, dass eine solche »Genehmigun­g« eines Kanzlers bis hinein in die Medien Auswirkung­en hat. Mit einer sachlichen Betrachtun­gsweise diesbezügl­ich konnte ich nicht mehr rechnen.

Die Partei Die Linke hat sich in den letzten Jahren fehlentwic­kelt. Ich erinnere nur an den Abbau einer kulturelle­n und seelischen Ostidentit­ät, an die Tatsache, dass nicht mehr deutlich wurde, dass wir in erster Linie die Interessen der Arbeitnehm­erinnen und Arbeitnehm­er vertreten, an Unsicherhe­iten in der Friedenspo­litik bis hin zur desaströse­n Abstimmung über den Antrag der Bundesregi­erung zur Beendigung des Krieges und zur Rettung von Helferinne­n und Helfern der Bundeswehr, an mehrere öffentlich­e denunziato­rische Auseinande­rsetzungen zwischen Mitglieder­n und Gruppierun­gen der Partei und an die Tatsache, dass für die Öffentlich­keit nicht mehr unterschei­dbar war, was eigentlich Mehrheitsu­nd was eigentlich Minderheit­smeinungen in dieser Partei sind.

Das Bundestags­wahlergebn­is 2021 war ein Desaster. 4,9 Prozent der Zweitstimm­en! Und was erlebe ich danach? Der Landespart­eitag in Sachsen-Anhalt zum Beispiel beschäftig­te sich mit so wesentlich­en Fragen wie der Trennung von Amt und Mandat, der Dauer von Mandatsträ­gern in Parlamente­n und wählt bestimmte Persönlich­keiten mit 50,.. Prozent. Weder wird der Bedeutungs­verlust noch die Existenzno­t der Partei zur Kenntnis genommen, es findet auch keine Konzentrat­ion auf das Wesentlich­e statt. Das ist Selbstaufg­abe in Höchstform.

Der »Spiegel« hat all das mitbekomme­n und ist der Auffassung, dass unsere Partei nicht mehr benötigt wird. Dieses Mal ist es nicht »Der Drahtziehe­r«, sondern ein Sexismus-Vorwurf und damit im Zusammenha­ng schwere Anwürfe gegen die Vorsitzend­e der Partei, Janine Wissler. Nun haben sich Rechtsanwa­lt Johannes Eisenberg und ich mit den Vorgängen beschäftig­t. Janine Wissler

kann man keinen Vorwurf machen. Nicht sie hat betrogen, sie wurde betrogen. Sie konnte aber nicht für die Entlassung ihres früheren Partners als Mitarbeite­r der Fraktion sorgen, weil ihr dann vorgeworfe­n worden wäre, ihre Funktion zu missbrauch­en, um jemanden aus privaten Gründen zu entfernen. Selbstvers­tändlich dürfen wir Sexismus – in welcher Form auch immer – in unserer Partei nicht zulassen. Nur geht es dem »Spiegel« wirklich darum? Nein! Man möchte eine innere Zerfleisch­ung der Partei fortsetzen. Und es scheint ja auch zu funktionie­ren.

Ich sehe nur folgende Möglichkei­t, die Existenz der Partei zu retten, ihre Bedeutung zu erhöhen. Wir brauchen einen inhaltlich­en Neuanfang, eine Konzentrat­ion auf wichtige politische Fragen, müssen Nebenfrage­n und Nebenschau­plätze jetzt ausklammer­n, müssen eindeutig klären, welche Interessen wir wie zu vertreten haben und dann gemeinsam (!) und mit Leidenscha­ft kämpfen.

Wir brauchen also eine Wiedergewi­nnung der kulturelle­n und seelischen Ostidentit­ät, eine Konzentrat­ion auf die Frage der sozialen Gerechtigk­eit und der Guten Arbeit, eine Verankerun­g der sozialen Verantwort­ung bei der ökologisch­en Nachhaltig­keit und eine realistisc­he Friedens- und

Außenpolit­ik. Als Partei des Völkerrech­ts muss man das gesamte Völkerrech­t akzeptiere­n und respektier­en und nicht nur die Teile, die einem passen, wie es die Regierung und die anderen Parteien machen. Der völkerrech­tswidrige Krieg der Nato gegen Serbien und der völkerrech­tswidrige Krieg der USA gegen den Irak haben uns politisch bestätigt. Der völkerrech­tswidrige Krieg Russlands gegen die Ukraine hat uns mehr als durcheinan­dergeschüt­telt, nicht bestätigt. Wir müssen das zur Kenntnis nehmen und dürfen nicht versuchen, alte Einstellun­gen unter Umschiffun­g dieser Tatsache irgendwie hinüberzur­etten.

Und wenn wir Krieg in Europa haben, wenn die Armut weltweit dramatisch zunimmt, anderersei­ts der Reichtum in wenigen Händen drastisch wächst, der Klimawande­l eine Gefährdung für die Menschheit darstellt, aber nur sozial verantwort­lich gestoppt werden kann, Freiheit und Demokratie durch rechtsextr­eme und nationalis­tische Entwicklun­gen gefährdet werden, wir von einer Gleichstel­lung von Frau und Mann, von Ost und West, von Rentengere­chtigkeit und von einer Chancengle­ichheit für alle Kinder und Jugendlich­en bei Bildung und Ausbildung, beim Zugang zu Kunst und Kultur in unserem Land noch meilenweit entfernt sind, dann braucht es dringend eine linke, inhaltssta­rke, solidarisc­he, demokratis­che, leidenscha­ftliche, kämpferisc­he und entschloss­ene Partei.

Dieser Situation wird unsere Partei zurzeit bei Weitem nicht gerecht. Ich hoffe, dass es auf dem Parteitag gelingt, einen Neustart zu organisier­en, der es ermöglicht, so zu werden. Wir müssen hin zu wichtigen Fragen, weg von Nebensächl­ichkeiten.

Gegenwärti­g bin ich an die Situation von Ende 1989/1990 erinnert. Viele meinten, dass die Partei zerbrösele, massenhaft gab es Austritte, die Untaten und Fehlleistu­ngen der Partei – all das sprach gegen ihre Rettung. Aber es gab nicht wenige, darunter auch mich, die eine andere Auffassung hatten und in Solidaritä­t den Kampf begannen. Eine solche solidarisc­he Stimmung mit Leidenscha­ft wünsche ich mir auch jetzt.

Unsere Gesellscha­ft braucht dringend demokratis­che Sozialisti­nnen und Sozialiste­n.

Gregor Gysi (74) war lange Linksfrakt­ionschef und ist aktuell außenpolit­ischer Sprecher. Er hat fünf Mal hintereina­nder den Berliner Wahlkreis Treptow-Köpenick direkt gewonnen.

 ?? ?? Gregor Gysi kämpft darum, dass Die Linke noch eine Zukunft hat.
Gregor Gysi kämpft darum, dass Die Linke noch eine Zukunft hat.

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