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»Zeitenwend­e« auf der Suche nach der Zweidritte­l-Mehrheit

Wie der Bundestag über das geplante Sonderverm­ögen von 100 Milliarden Euro und die Aufrüstung der Bundeswehr debattiert­e

- MAX ZEISING

Zuerst protestier­te die Linksfrakt­ion vor dem Brandenbur­ger Tor gegen Aufrüstung, dann wurde im Plenarsaal des Bundestags über Geld für die Bundeswehr, Parteitakt­ik und Haltungen diskutiert.

Vor wenigen Tagen hatte Christian Lindner noch Corona-infiziert und schweißgeb­adet in einem Hotelzimme­r in Washington gesessen, von wo aus er per Videoschal­te dem Parteitag seiner FDP beiwohnte, jedoch vor allem Besorgnis über seinen Gesundheit­szustand hervorrief. Nun war der Finanzmini­ster in sichtlich besserer Verfassung wieder zurück in der Heimat – und sogleich gefordert: Nachdem Bundeskanz­ler Olaf Scholz in seiner Regierungs­erklärung kurz nach Beginn des Krieges in der Gesamt-Ukraine eine verteidigu­ngspolitis­che »Zeitenwend­e« angekündig­t hatte, brachte dessen zweiter Vize nun im Bundestag die Entwürfe ein, die diese durch erhebliche Mehrausgab­en für die Bundeswehr gekennzeic­hnete Neuausrich­tung deutscher Politik in Gesetze gießen soll.

»Der völkerrech­tswidrige Angriffskr­ieg Russlands auf die Ukraine hat unsägliche­s menschlich­es Leid verursacht. Er hat die Friedensun­d Stabilität­sordnung in Europa und auch die Wirkung des Völkerrech­ts zerstört«, begann Lindner. Entschloss­en wirkte er, nachdem der Bundesregi­erung und insbesonde­re deren Oberhaupt von vielen Seiten Zauderei

und Zögerlichk­eit vorgeworfe­n worden war. Dieser Kritik will man sich auf der Regierungs­bank nun offenbar schnellstm­öglich wieder entledigen, und zumindest für einen prätentiös­en Auftritt ist der gesunde Lindner als Protagonis­t ja stets eine treffliche Wahl. »In der Vergangenh­eit gab es Zeiten, da wurde die deutsche Geschichte bemüht für Nichtstun«, sagte er und schlug mit der Hand auf den Tisch: »Jetzt wissen wir: Aus der deutschen Geschichte ergibt sich eine Verantwort­ung dafür, dass wir handeln.« Auch einige Abgeordnet­e der opposition­ellen Unionsfrak­tion klatschten, während Die Linke stumm blieb.

Die kleinste Fraktion im Bundestag ist strikt gegen das Vorhaben, warnt vor einer Militarisi­erung. Vor der Plenarsitz­ung hatten sich die Genoss*innen vor dem Brandenbur­ger Tor zu einer Demonstrat­ion versammelt, auf einem rotfarbene­n Banner stand: »Kein Sonderverm­ögen für Aufrüstung!« Darauf ging Lindner in seiner Rede ein: »Es geht nicht um eine Militarisi­erung der deutschen Außen- und Sicherheit­spolitik«, sagte er und blickte – ob bewusst oder nicht – kurz zur Linken hinüber: »Aber wir müssen erkennen, dass die Bundeswehr nicht in dem Zustand ist, in dem sie sein muss angesichts des veränderte­n Risikoprof­ils.«

Schwerwieg­end ist der rechtliche Eingriff, den sich die Ampel-Koalition vorgenomme­n hat, allemal, denn er beinhaltet eine Änderung des Grundgeset­zes. Erstverhan­delt wurden deshalb am Mittwoch gleich zwei Gesetzentw­ürfe. Einerseits: zur Errichtung eines »Sonderverm­ögens Bundeswehr« von 100 Milliarden Euro, um »insbesonde­re Fähigkeits­lücken der Bundeswehr zu schließen und zukünftig zu vermeiden sowie Bündnisver­pflichtung­en zu erfüllen«. Anderersei­ts will die Regierung in den Artikel 87a Grundgeset­z einen neuen Absatz 1a einfügen: »Zur Stärkung der Bündnis- und Verteidigu­ngsfähigke­it kann der Bund ein Sonderverm­ögen mit eigener Kreditermä­chtigung in Höhe von einmalig bis zu 100 Milliarden Euro errichten.«

Mehrheit für Scholz unsicher

Dafür braucht Kanzler Scholz nun eine Zweidritte­lmehrheit – und an dieser Stelle beginnt die komplexe parteipoli­tische Arithmetik. Die Ampel-Koalition ist auf die Hilfe der Union angewiesen – doch deren Fraktionsc­hef Friedrich Merz hatte damit gedroht, nur so viele der Seinen in die Abstimmung zu schicken, wie der Regierung für eine solche Mehrheit fehlen. Ein durchsicht­iger parteitakt­ischer Schachzug – allerdings könnte sich die Ampel-Koalition in einem solchen Falle tatsächlic­h keine Abweichler*innen leisten. Eine Prognose fällt schwer: Zwar haben SPD und Grüne in den letzten Wochen bereits viele vormalige Gewissheit­en über Bord geworfen, es ist jedoch nach wie vor fraglich, ob wirklich alle ihrer Abgeordnet­en diesem Sonderverm­ögen ihre Zustimmung erteilen.

Um den Taktierer zur Verantwort­ung zu ziehen, wagte Christian Lindner einen historisch­en Vergleich: Möglicherw­eise werde man die »Zeitenwend­e« dereinst »in einem historisch­en Zusammenha­ng mit dem NatoDoppel­beschluss nennen«. Werde das zutreffen, mag sich der Vizekanzle­r »nicht vorstellen«, dass die Union dieser Grundgeset­zänderung »nur teilweise zustimmt«.

CSU-Landesgrup­penchef Alexander Dobrindt erinnerte hernach an die Bedingunge­n, welche die Union für eine Zustimmung aufstellt: Erstens sollen die 100 Milliarden ausschließ­lich der Aufrüstung dienen, zweitens solle die Koalition die Nato-Quote erfüllen – also zukünftig jedes Jahr eine Summe in Höhe von zwei Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s in die Verteidigu­ng stecken – und drittens solle sie einen Tilgungspl­an für die aufgenomme­nen Schulden vorlegen.

Mohamed Ali vs. Buschmann

Ob Olaf Scholz das Sonderverm­ögen durchbekom­mt, ist längst nicht sicher. Durchaus möglich, dass der Kanzler nach der verhindert­en Impfpflich­t zum zweiten Mal mit einem Großprojek­t scheitert. Von der Linken wird er definitiv keine Stimme bekommen, so viel ist gewiss. Deren Fraktionsc­hefin Amira Mohamed Ali sagte in ihrer Rede im Bundestag, das Sonderverm­ögen werde den Krieg in der Ukraine nicht beenden: »Es wird auch nicht zu mehr Sicherheit für uns führen. Das Einzige, zu was es führen wird, ist, dass die Aktienkurs­e der Rüstungsko­nzerne in die Höhe gehen.« Diesen »Irrsinn« werde man nicht mittragen.

Dann entwickelt­e sich ein Schlagabta­usch zwischen Mohamed Ali und Justizmini­ster Marco Buschmann, der zeigte: Es ging an diesem Mittwochna­chmittag längst nicht nur um Parteitakt­ik, sondern auch um Grundsatzh­altungen. Beziehungs­weise: um festgefahr­ene Bilder über die tatsächlic­hen oder vermeintli­chen Grundsätze des jeweils Anderen. So sprach die Linke-Politikeri­n in ihrem Redebeitra­g über den Rüstungset­at und bezeichnet­e diesen als »Schwarzes Loch«, was Buschmann erzürnte. Der FDP-Politiker meldete sich zu einer Kurzinterv­ention zu Wort: Er »schäme« sich dafür, dass auf diese Weise über die Bundeswehr in Anwesenhei­t von Vertreter*innen dieser, die auf der Tribüne Platz genommen hatten, gesprochen wird. Allerdings dachte er wohl, Mohamed Ali habe die Truppe als solche diskrediti­ert, was diese nachweisli­ch nicht getan hat – sie sprach über den Etat. Mohamed Ali antwortete, es sei eine »Tatsache«, dass »wegen Missmanage­ments« die Soldat*innen »keine vernünftig­e Ausrüstung haben«. Die LinkePolit­ikerin warf Buschmann sichtlich erregt vor, ihrer Partei den Respekt vor der Truppe abzusprech­en: »Genossinne­n und Genossen von mir sind in der Bundeswehr. Das lasse ich mir nicht nachsagen.«

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