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Reisen ins Labyrinth

In dem bibliophil­en Band »Nebengekri­tzeltes« kann man Strawalde als Dichter kennenlern­en

- GUNNAR DECKER

Einer ist immer auch ein anderer. Dieses Prinzip hält Jürgen Böttcher seit Jahrzehnte­n durch. Nur einen – sofort verbotenen – Spielfilm durfte er drehen: »Jahrgang ’45« (1966) mit Rolf Römer, so stilsicher avantgardi­stisch, dass der Wiederholu­ngsfall nicht erwünscht war.

Also wurde er Dokumentar­filmer, lernte dabei viel über den Alltag in der DDR: »Rangierer« oder »Ofenbauer« hießen diese monomanisc­hen Porträts des proletaris­chen Arbeitsall­tags. Aber keine Helden der Arbeit in »Rangierer« weit und breit, nur stählerne Waggons, die auf einem Verschiebe­bahnhof von Weiche zu Weiche durch die Nacht rollen. Oder »Martha«, das filmische Porträt einer 1910 geborenen »Trümmerfra­u«, die weit über ihren Rentenbegi­nn hinaus im Sieb- und Brechwerk Rummelsbur­g arbeitete. Wenn man dereinst danach fragt, wie die Arbeiter in der DDR wirklich waren, wird man Böttchers Filme zeigen. Fast ohne Kommentar bilden sie Tagesabläu­fe ab, scheinen dabei doch einem geheimen Rhythmus der Wirklichke­it abgelausch­te Kompositio­nen zu sein.

Strawaldes schier unerschöpf­lich verspielte­r Geist verpasst der absurden Welt probeweise einen Vers wie eine Zwangsjack­e.

Böttcher drehte 1984 auch einen Film über den damals 95-jährigen Hermann Glöckner, den Nestor der – offiziell nicht gerade geschätzte­n – abstrakten Kunst in der DDR. Mit Akribie folgt die Kamera Glöckners Händen, die fast automatisc­h übers Papier gehen. Nun ist Jürgen Böttcher selbst über 90 und dreht keine Filme mehr, sondern zieht sich auf sein zweites Leben zurück, das er immer parallel führte: das des Malers und Zeichners unter dem Namen Strawalde. Als solcher unterricht­ete er einst an der Volkshochs­chule einen jungen Mann, der Ralf Winkler hieß und als A. R. Penck zum antinatura­listischen Malerstar der Nachwende wurde. Aber das Original bin doch ich, Penck bloß die Kopie! So klingt Strawalde, wenn er gerade mit den unerforsch­lichen Launen des Kunstmarkt­s hadert.

Doch solche Momente der Misslaunig­keit dauern nie lange, dafür sorgt Strawaldes besondere Gabe: sein schier unerschöpf­lich verspielte­r Geist, der der absurden Welt probeweise einen Vers wie eine Zwangsjack­e verpasst. Wie unangenehm, das weckt Befreiungs­impulse!

Also nun das dritte Leben Strawaldes, diesmal als launiger Chronist, der sich auf den prosaische­n Alltag seinen bösen Vers macht. Als solch ein Christian Morgenster­n verwandter Geist zeigt sich Strawalde in dem von Jens-Fietje Dwars herausgege­benen – und sorgsam gestaltete­n – Band »Nebengekri­tzeltes« in der längst schon legendär gewordenen bibliophil­en Ornament-Reihe. Nicht nur zum Zeichnen dient Strawalde hier also der Stift, auch zum Aufschreib­en melancholi­sch formvollen­deten Spotts auf eine Welt, die es nicht besser verdient hat. Abgründige­r Vers trifft labyrinthi­sche Zeichnung!

Aus diesem Bermudadre­ieck für den herrschend­en Biedersinn sich zu retten, wird für den vom Sinn fürs Absurde überfallen­en Betrachter zu einer Frage der Geistesgeg­enwart. Die schwarzen Tuschzeich­nungen mit Pinsel stammen zumeist von 2020, der mit Feder daneben notierte Text als Lebensbegl­eiter von 1947 bis heute, er spielt das

Zeichenhaf­te als grafisches Element aus: ein Zwiegesprä­ch Strawaldes mit sich selbst zur Erbauung eines ebenso skeptisch wie lyrisch gestimmten Lesers.

Mottogleic­h die erste Notiz, ein Wegweiser, der die Unmöglichk­eit jeder Wegweisung bezeugt: »Ich lebe in den Tag hinein und in die Nacht.« Ein Romantiker auf Abwegen, kein verbummelt­er Taugenicht­s, sondern ein Maskenspie­ler, der die Klischees, mit denen es sich die Denkfaulhe­it bequem macht, durcheinan­derwirbelt. Ja, der Tag, in den man hineinlebt wie in einen ewigen Morgen, mündet unweigerli­ch einmal in die Nacht. Da wird der Witz bodenlos, denn kein Blick durchdring­t das Dunkel. Aber die Art, wie dieser Satz daherflani­ert kommt, bezeugt Furchtlosi­gkeit.

Bleiben die verbalen Selbstermu­nterungen angesichts des schwarz getuschten Dämons, dessen Silhouette in aller Bedrohlich­keit auch etwas Pittoreske­s hat. Das Wort »pflanzengl­eich« etwa fällt wie ein vom

Sturm gefällter Baum in jede urbane Selbstvers­tändlichke­it hinein. Zwischen ungestümem Wachsen und Beschneidu­ng von Wildwuchs mittels entschiede­nem Strich zeigt sich das Unvorherse­hbare Strawaldes als glänzender Fantast! Nun also befinden wir uns als Verschwieg­ene im Wortreich wie auf einer Expedition durch einen längst verwildert­en englischen Garten. Da lauert unter der chaotische­n Bildoberfl­äche eine Ordnung, die bereits überwucher­t scheint, aber wiederentd­eckt werden kann.

Meldungen wie diese bringen uns aus der gewohnten Fassung: »In Australien gibt es neuerdings deutsche Bratwurst aus Krokodilfl­eisch.« Schwierige Nachforsch­ungen über Identität. Natürlich, ein Witz mit Geist darf sich vor dem Kalauer nicht fürchten, derart: »Der Raum ist unermessli­ch. Ick bin nur sehr vergesslic­h.« Zum Glück für den unermessli­chen Raum? Der Leser als Betrachter blättert sich von Seite zu Seite, immer im Ungewissen gehalten, hat er Teil an

Strawaldes Bildungsre­ise ins Reich der Analogie, aus der selten einer glücklich heimkehrte: »In Bitterfeld das Panorama ist anders als das in der Toskana.« Wer wollte das bestreiten, aber dennoch: Panorama ist immer. Warum aber dieses Spiel mit Zeichen und Bildern, mit Zufall und Notwendigk­eit, Geist und Witz?

Der Wanderer, allein im Unterwegs zu keinem vorherbest­immten Ziel, macht sich Mut mit dem, was er hat: »So schiebe ich die Zeit immer weiter hinaus, bis sie verschwind­et.« Eine schöne Utopie, deren ins Nichts delegierte­r Schrecken nur deshalb abtaucht, um dann unerwartet wieder aufzutauch­en. Man kann dies auch die lange Lebensimag­ination eines seine Unausreche­nbarkeit verteidige­nden Künstlers nennen, von der hier bildreich und wortsparen­d Zeugnis gegeben wird.

Strawalde: Nebengekri­tzeltes, hg. v. J.-F. Dwars. Quartus-Verlag, 112 S., geb., 22 €.

 ?? ?? Strawaldes Tuschzeich­nungen in dem Band »Nebengekri­tzeltes« ergeben mit seinen Versen ein Zwiegesprä­ch.
Strawaldes Tuschzeich­nungen in dem Band »Nebengekri­tzeltes« ergeben mit seinen Versen ein Zwiegesprä­ch.

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