Dicke gelierte Blutwürfel mit Tofu: Zum Glück bin ich kulinarisch ein Chinese.
schafft. Du fliegst am Samstag, den 6. November um 19:00 Uhr von Frankfurt nach Shanghai.« Ich dachte, sie würde Witze machen, und fragte, wie sie denn das geschafft hätte. »Ganz einfach. Ich habe um zwei Minuten vor Neun angerufen. Da bekam ich die Auskunft: Sie sind zu früh. Rufen sie genau Neun an oder später. Dann habe ich gebettelt, ob ich nicht in der Leitung bleiben dürfe. Und weil sie mich ja inzwischen schon gut kannten, durfte ich. Um Punkt 9 Uhr habe ich dann deinen Platz bekommen.« Der komplette Wahnsinn.
Ein Jahr, acht Monate, vier Wochen später Noch 130 Kilometer, 100, 70, 30, 20 und dann sind wir da. Flug CA934 von Frankfurt ist um 14:04 Uhr Ortszeit in Shanghai-Pudong gelandet. Fast zwei Jahre habe ich auf diesen Moment gewartet. Jetzt fühlt es sich so an wie zig Landungen zuvor im Leben.
Es ist Sonntag, der 7. November 2021, 14:04 Uhr, auf dem Flughafen ShanghaiPudong. Der erste Checkpoint: Ein Tisch vom chinesischen Zoll, der offensichtlich mit dem Gesundheitsmonitoring internationaler Flüge beauftragt ist. Verstehe jetzt, warum ich den zusätzliche Health Declaration Code vom Zoll schon in Frankfurt herunterladen musste, den ich für ein bisschen redundant hielt. Am Checkpoint stehen und sitzen einige Männer, selbstverständlich in Hazmat-Anzügen. In diesem Moment wird mir klar, dass ich in den nächsten zwei Wochen keinen normal gekleideten Menschen mehr zu Gesicht bekommen werde, jedenfalls in meiner unmittelbaren Nähe. Momentane Ausnahme noch: Meine Mitpassagiere, soweit sie sich nicht selbst verpackt haben.
Ich muss an einem Aufsteller einen QRCode scannen, um einen frischen Health Declaration Code vom Zoll aufs Handy zu bekommen, denn der aus Frankfurt ist ja bereits abgelaufen. Allerdings funktioniert mein großartiges Aldi-Talk-Auslandspackage nicht – vielleicht bin ich auch zu doof, es zu aktivieren –, so dass ich den Code zunächst einmal wieder nicht herunterladen kann. Kein Problem für die Zoll-Hazmatis: Ich darf mich in das Zoll-WLAN einloggen. Ein Zöllner gibt das Passwort ein. Ich hoffe, ich verrate kein Staatsgeheimnis, wenn ich schreibe, dass es acht Mal 1 lautet. Dieses WLAN-Passwort hat man übrigens öfter in China, genauso wie 8 mal die 8 – bringt Glück, aber wahrscheinlich nur dem Hacker – oder eben die klassische Zahlenreihe 1,2,3,4,5,6,7,8. Hätte ich auch von alleine drauf kommen können.
Im Setting von »Squid Game«
Der Treppe folgt ein weiterer labyrinthischer Gang, der schließlich aus dem Abfertigungsgebäude heraus zu einer aus Containern errichteten, langgezogenen Baracke führt, die dicht an den Terminal herangestellt wurde. Das ganze Setting erinnert etwas an die koreanische Serie »Squid Game«. Durch die Fenster sehe ich, dass drinnen rund fünfzig Abstrichschalter eingerichtet sind. Vielleicht dreißig davon sind geöffnet. Jetzt wird also getestet. Ein Hazmati bedeutet mir, mich vor dem äußerst linken Schalter – wo sonst? – aufzubauen. Natürlich tragen alle Hazmatis auf dem Flughafen Latex-Einweghandschuhe. Trotzdem wird laufend jede denkbare Fläche desinfiziert, und zwar in einem Maße, wie ich es in Deutschland noch nicht gesehen habe.
Am Sonntag, den 7. November 2021, kurz vor 18 Uhr stehe ich am provisorischen Rezeptionstisch eines »Holiday Inn Express« irgendwo in den Suburbs von Shanghai. Links von mir ein Absperrband, dahinter Stapel grellgelber Mülltonnen, ungefähr 2,50 Meter hoch. In diesen Tonnen wird offenbar der Giftmüll entsorgt, den wir Ankömmlinge aus Seuchendeutschland während unseres Aufenthaltes produzieren werden. Rechts von mir niedrige Absperrgitter, die mich und die anderen Wartenden von dem Rasen trennen, der den Hotelhof bedeckt. Das Hotel selbst besteht aus mehreren vierstöckigen Kästen, die – das kenne ich aus Südchina und Südostasien – auf Betonstelzen stehen, so dass das Erdgeschoss im Freien liegt, aber überdacht ist.
Ein gelbbeige gestrichener Gang ohne einen Hauch von Dekoration. Squid Game all over again. Ein Wegweiser zu den Zimmern 5030 – 5045. Eine Halle, die nach Chlor stinkt. 5040, 5041, 5039. Wo ist denn jetzt 5038? Ah, hinter dem Wandvorsprung, etwas versteckt. Ein blaues Schild mit der Nummer, darunter ein kleines, sechseckiges Tischchen. Ich lege meine Papiere drauf, mache ein paar Fotos und fitzele meine Zimmerkarte aus dem Umschlag.
Zehn Meter im Zimmer
Die Tür geht auf und ich stecke die Karte in den dafür vorgesehen Schlitz, um das Licht anzumachen. Das Pärchen verschwindet in den beiden Zimmer rechts neben mir. Sie dürfen die nächsten vierzehn Tage nicht zusammen sein, aber wenigstens haben sie zwei Zimmer nebeneinander. Ich greife mir meine Papiere und überschreite dann die Schwelle.
Als allererstes unterziehe ich das Zimmer einem Schnellcheck. Es ist etwa vier Meter breit, und der Abstand von der Tür bis zur Fensterfront beträgt rund zehn Meter. Nicht schlecht, da kann man einigermaßen anständig hin- und herlaufen. Die Fensterfront ist genauso breit wie das Zimmer; da habe ich also was zu gucken. Allerdings sehe ich im Moment nur zwei windgepeitschte Weiden im Laternenlicht und etwas Kanalwasser nahe am Hotel, und in weiter Ferne eine Hochhauswand, auf deren Spitzen rote Lichter blinken sowie ein einzelnes Hochhaus mit der in China so beliebten animierten LEDFassade. Gerade wird ein Feuerwerk darauf abgebrannt; auch das ein beliebter Standard. Sonst ist wegen Stockfinsternis nichts weiter zu erkennen. Das ist aber egal. Hauptsache, der Blick kann schweifen, und endet nicht an einer Mauer.
Um 18:50 Uhr klopft es an der Tür. Als ich öffne, steht ein Plastikteller auf dem sechseckigem Tischchen, daneben ein Becher Jogurt und eine Mandarine. Ich hole alles ins Zimmer, nehme den Deckel vom Plastikteller ab und entdecke, dass er etwa zwanzig Jiaozi – mit Hackfleisch gefüllte Teigtaschen – enthält, sowie dunklen chinesischen Essig zum Eintunken. Ein schöne Begrüßung. Die Jiaozi kommen gerade Recht, denn ich habe inzwischen wirklich großen Hunger.
Trotz des geschlossenen Fensters bleibt das Zimmer kalt. Dafür funktioniert das WLAN jetzt. Gerade rechtzeitig, denn um 19 Uhr soll das sonntägliche VooV- Meeting mit meiner chinesischen Familie beginnen. VooV, eine APP des chinesischen Internetkonzerns Tencent, ist das chinesische Pendant zu Zoom. Schon von Berlin aus habe ich wöchentlich an diesen virtuellen FamilienTreffen teilgenommen. Auf diese Weise hielt ich den Kontakt zu meiner Frau und meinen Schwiegereltern aufrecht. Außerdem nehmen an diesen Treffen auch meine Schwägerin und mein Schwager im südchinesischen Guangzhou teil, sowie deren Kinder und meine beiden Neffen in Berlin. Lustigerweise habe ich ausgerechnet hier in Shanghai Probleme mich einzuloggen. Am Ende klappt es aber irgendwie doch. Das ist überhaupt ein sehr chinesischer Satz. Viele Dinge, die zunächst unmöglich scheinen, regeln sich in China am Ende irgendwie. Man muss nur manchmal sehr lange warten wie man auch an meiner Rückkehr sieht.
Warme Empfehlungen
Nach der Bildschirmkonferenz habe ich endlich Zeit, die Papiere aus dem Umschlag zu studieren. Punkt 1 der »Warmen Empfehlungen« – die, wie ich langsam begreife, gar keine sind, sondern handfeste Verbote – ist absurd, aber lustig: Durians – die auf Deutsch gerne auch Stinkfrüchte genannt werden, obwohl sie sehr gut schmecken – Flussschnecken-Reisnudeln und andere stark riechende Lebensmittel dürfen nicht ins Zimmer gebracht werden. Wie das gehen soll, wenn man überhaupt keine Pakete und Außerhausbestellungen entgegennehmen darf, würde ich gerne mal wissen. Punkt zwei verbietet ausdrücklich, das Zimmer anzustecken – gut, das ist gelogen – nein, den Gebrauch von offenen Flammen und elektrischen Hochspannungsgeräten. Unter 3 wird dann schließlich ausgesprochen, worum es in einer echten Quarantäne wirklich geht: »Leaving your or leaving for other rooms is strictly forbidden.« Könnte mich jemand beobachten, würde sie oder er mich jetzt nicken sehen: Genau so muss man das machen, um eine Pandemie in den Griff zu bekommen, und nicht so wie in Deutschland, wo, wenn überhaupt, Quarantäne zu Hause stattfindet, ohne dass sie kontrolliert wird.
Weitere Punkte lauten, dass man in den Zimmern weder rauchen noch Alkohol trinken darf. Okay, das ist nun nicht wirklich erforderlich, unterstreicht aber die Ernsthaftigkeit der Maßnahmen. Unter römisch IV ist dann die Nummer einer medizinischen Hotline abgedruckt. Die soll sofort angerufen werden, wenn man Fieber, Husten, Atemnot oder andere Symptome hat.
Ganz zum Schluss, über zwei farbigen QRCodes, noch eine, für mich extrem wichtige Information: Der Preis. Ich wusste vorher, dass man sich sein Quarantäne- Hotel nicht aussuchen kann, noch nicht einmal die Kategorie. Das heißt auch, dass es im Zweifel nicht nur teuer – das sind zwei Wochen Hotelaufenthalt sowieso –, sondern sehr teuer werden kann. Um so erleichterter bin ich, als ich lese, dass mein Zimmer 360 RMB pro Tag kosten soll, plus 80 RMB pro Tag für drei Mahlzeiten. Zusammen macht das für die 14 Tage 6160 RMB, was momentan ganz genau 842,72 Euro sind, oder rund 60 Euro pro Tag.
Für ein Hotel dieser Kategorie mit Vollpension ist das auch in China sehr günstig. Tatsächlich wird in der chinesischen Version des Zettels erwähnt, dass mein Zimmer in Friedenszeiten 499 RMB pro Nacht kostet.
Bezahlen kann man per WeChat Pay oder AliPay – dafür sind die QR Codes da –, per Kreditkarte oder bar. Auch das ist eine kleine Überraschung, wurde ich doch gewarnt, dass Barzahlung in China inzwischen praktisch nicht mehr möglich sei. Verblüfft bin ich auch über die Sätze, mit denen die »Warning Notice« endet: »I sincerely wish you have a memorable 14 days here.« Ich weiß zwar nicht, wer »I« ist, aber ihr oder ihm kann ich versichern, dass ich den Aufenthalt im »Holiday Inn Express Pujiang« wohl erst dann vergessen
ANZEIGE werde, wenn der Alzheimer auch meine Erinnerungen an meine größten und schönsten Erfolge (Abitur, erste, zweite, dritte, vierte, fünfte Liebe, Jahrhundertroman) getilgt haben wird.
Das bringt der Tag
7:50 Uhr. Während ich noch nach draußen starre, klopft es. Öffne die Tür. Auf dem Tischchen vor meinem Zimmer steht das Frühstück. Hole das Plastiktablett, den Jogurt und die Mandarine rein, stelle alles auf die Verlängerung des Schreibtischs und mache ein Foto mit dem Handy.
9:45 Uhr. Ein Rudel wilder Hunde kreuzt die planierte Fläche von links nach rechts. Insgesamt sechs oder sieben Tiere.
10:41 Uhr. Versuche mit Hilfe von Google Maps herauszufinden, wo ich genau bin. Die Schnellstraße rechts neben meinem Fensterpanorama ist die S 123, die auch Puxing Highway heiß. Hinten, wo die mutmaßliche Shopping Mal mit der goldenen Kuppel liegt, kreuzt sie die Autobahn S 20, die wenn ich sie verlängere, zum Flughafen führt. Über diese Straße ist offenbar unser Bus gekommen.
11:45 Uhr. Lautes Klopfen. Mittagessen vor der Tür. Beim Reinholen: Stimme der Frau aus dem Nebenzimmer. Sie spricht offenbar mit jemandem vom Personal. Verstehe das Wort »kongtiao« – Klimaanlage. Wahrscheinlich beschwert sie sich, weil die AirCon drüben auch nicht funktioniert. Sehr gut. Muss ich mich nicht drum kümmern.
11:50 Uhr. Mittagessen. Gedämpfte Scampi. Kleine Shizitou – Fleischbällchen – in brauner Soße, zwei Stück. Weißkohl mit Schweinefleischstückchen. Ein großer Batzen weißer Reis. In einem Extraschälchen eine Seetangsuppe, dazu ein Becher süßer Jogurt und ein Apfel. Esse mit Einwegholzstäbchen, die man in der Mitte auseinanderbrechen muss. Außerdem in der Packung: Kleiner brauner Plastiklöffel, winzige Serviette, die kleiner ist als ein Papiertaschentuch, sowie ein Zahnstocher in einer Papierhülle.
17:30 Uhr. Abendessen steht vor Tür. Bin mir ziemlich sicher, dass die meisten Westler den Großteil der Gerichte nicht essen könnten. Serviert wird Hong Shao Rou, fettes Schweinefleisch mit Schwarte, das so lange gekocht wird, bis es auf der Zunge schmilzt; Maos Leibgericht und auch ich esse es gerne. Außerdem: Dicke gelierte Blutwürfel mit Tofu, gewürzter, gegarter Blumenkohl, grünes, unbekanntes Gemüse. Dazu: Eierstichsuppe, Reis, Jogurt und eine Mandarine. Zum Glück bin ich kulinarisch ein Chinese.
19:20 Uhr. Es wird plötzlich wieder kühl. Hat die Aircon endgültig ihren Geist aufgegeben? Ein Blick auf das Kontrolldisplay: »Filter cleaning«. Offenbar reinigt sie sich öfter selbst. Nach etwa 10 Minuten wird es wieder warm. Reinigung beendet.
20:05 Uhr. Anruf über das Festnetztelefon. Eine weibliche Stimme fragt, ob ich mich »bu shufu« – nicht wohl – fühle. »Wo hen shufu«, antworte ich. »Ich fühle mich sehr wohl.« Aha, das war also die angekündigte tägliche Gesundheitsbefragung.
23:11 Uhr. Werfe eine DM-MelatoninKapsel ein, und schlucke zusätzlich einen Teelöffel Baldrian-Tropfen. Tinktur enthält 66% Alkohol. Von wegen: Es gibt keinen Alk in der Quarantäne.