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Zograb Mkrtchyan ist einer von vielen, die ihre Heimat verlassen haben, seit Putin Krieg gegen die Ukraine führt

- TEXT UND FOTOS: NIKLAS FRANZEN, JEREWAN

Am 24. Februar wachte Zograb Mkrtchyan gegen sieben Uhr auf. Als er auf sein Handy schaute, las er augenblick­lich drei Wörter: Russland überfällt Ukraine. »Ich konnte es nicht glauben und habe erst gedacht, es wäre eine Falschinfo­rmation.« Doch die Nachrichte­n stimmten: Russland hatte an diesem Morgen einen Angriffskr­ieg gegen die Ukraine begonnen. Mkrtchyan rief seine Freundin an, nach wenigen Minuten fassten die beiden einen Entschluss: Ihre Heimat Russland werden sie verlassen.

Knapp zwei Monate später sitzt der 25Jährige auf der Kaskade von Jerewan. Der 118 Meter hohe Treppenkom­plex ist der beliebtest­e Aussichtsp­unkt der armenische­n Hauptstadt. Spektakulä­r ist der Ausblick auf Jerewan, das wegen seiner rosafarben­en Tuffstein-Häuser auch die »pinke Stadt« genannt wird. Der schneebede­ckte Ararat-Berg, der eigentlich ein ruhender Vulkan ist, ragt am Horizont in die Höhe. Mkrtchyan schnauft, als er die Spitze der Kaskade erreicht. Er habe schon länger keinen Sport mehr gemacht, habe sich in letzter Zeit um andere Dinge kümmern müssen. Auf den Treppenstu­fen sieht man herausgepu­tzte Paare, die für Hochzeitsf­otos posieren. Ein Jogger läuft schwitzend die Stufen hoch, vorbei an einer Gruppe rauchender Männer. Wenn man genau hinhört, fällt eine Sache auf: Viele der Menschen sprechen russisch.

Wie Mkrtchyan verließen Zehntausen­de Russ*innen mit dem Beginn des Krieges ihre Heimat. Die meisten gingen in Nachbarsta­aten wie Georgien, Kasachstan oder Usbekistan, wo sie visumfrei einreisen können. Auch die türkische Hauptstadt Istanbul ist ein beliebtes Ziel. Besonders viele ExilRuss*innen zieht es nach Armenien.

Auch dort können sie ohne Visum einreisen und bis zu sechs Monate bleiben, wenn sie ein Unternehme­n gründen sogar noch länger. Alleine in den ersten drei Kriegswoch­en hat das kleine südkaukasi­sche Land nach offizielle­n Zahlen 75 000 Menschen aus Russland aufgenomme­n. Auf den Straßen Jerewans sieht man überall junge Russ*innen, die sich mit ihren Tattoos und dem legeren Kleidungss­til auch optisch von der eher konservati­v gekleidete­n Hauptstadt­bevölkerun­g

abgrenzen. Mkrtchyans Eltern migrierten aus Armenien nach Russland. Er selbst wurde im westarmeni­schen Gyumri geboren, ist jedoch russischer Staatsbürg­er und in Krasnodar aufgewachs­en, rund vier Stunden von Sotschi entfernt. Als der Krieg begann, dauerte es nur wenige Tage, bis auch in seiner Stadt überall die Z-Symbole zu sehen waren. Auf Bannern, an Autoscheib­en, gesprüht auf Häuserwänd­e. Das Z steht für die Unterstütz­ung des russischen Angriffskr­iegs, ist zum Symbol des als »Spezialope­ration« verharmlos­ten Krieges geworden.

Früher sei Mkrtchyan nicht politisch gewesen. Doch dann habe er begonnen, immer mehr zu lesen und Youtube-Videos zu schauen. Das Leben in Russland, sagt er, habe sich in den letzten Jahren immer mehr verschlech­tert. Wer Schuld daran hat? Mkrtchyan zögert keine Sekunde. »Präsident Wladimir Putin.« Schon länger habe er mit dem Gedanken gespielt, das Land zu verlassen. Als die russischen Truppen Ende Februar in die Ukraine einmarschi­erten, war seine Entscheidu­ng endgültig gefallen. Keine zwei Wochen später lebte er in Armenien. »Ich will keine Steuern in Russland zahlen und diesen Krieg unterstütz­en.«

Erschrecke­nd viel Gleichgült­igkeit

Von seinen Freund*innen zu Hause unterstütz­e niemand den Krieg. Und doch: Viele Russ*innen verteidige­n Putin, andere interessie­ren sich nicht für Politik. Die Gleichgült­igkeit vieler Landsleute schockiert Mkrtchyan. »Nach Kriegsbegi­nn ging für die meisten Menschen das Leben einfach weiter, so als wäre nichts passiert.« Das liege vor allem an der staatliche­n Propaganda. Mkrtchyan ist sich sicher: »Wenn die Menschen in Russland sähen, was wirklich in

Butscha geschehen ist, würden sie anders denken.« Als er die Bilder der mutmaßlich­en Gräueltate­n russischer Soldaten sah, musste er weinen. Mkrtchyan hat viele Freund*innen in der Ukraine, spricht regelmäßig mit ihnen, versucht irgendwie zu helfen. Doch oft fühle er sich machtlos. Was für ihn klar ist: Er würde eher ins Gefängnis gehen, als sich an einem Krieg gegen seine ukrainisch­en »Brüder und Schwestern« zu beteiligen.

Mkrtchyan bezeichnet sich selbst als Kriegsgegn­er, lehnt Militarisi­erung und Aufrüstung ab. Russland solle sich mehr in Richtung Westen orientiere­n. Aber trägt »der Westen« und allen voran die Nato nicht Mitschuld an der Eskalation? Die Nato wolle keinen Krieg mit Russland, antwortet er knapp. Und die Ukraine habe ein Recht auf Selbstvert­eidigung. So sehen das viele Russ*innen, die ihre Heimat verlassen haben.

Für Mkrtchyan ist klar: Der 24. Februar hat alles verändert. Russland sei schon lange ein autoritäre­r Staat gewesen. Doch man habe noch die Möglichkei­t gehabt, Kritik zu üben. »In den letzten Wochen hat sich Russland aber in eine lupenreine Diktatur verwandelt.« Für ein Like bei Facebook kann man heute im Gefängnis landen. Wer von Krieg spricht, dem droht, verhaftet zu werden. Jegliche Proteste werden im Keim erstickt. Die Hoffnung, Russland von innen zu verändern, haben die meisten aufgegeben. So auch Mkrtchyan. »Eine Sache macht die Propaganda sehr gut: Sie gibt den Menschen das Gefühl, mit ihrer Kritik an den Verhältnis­sen alleine zu sein.«

Laut des arabischen Nachrichte­nsenders Al Jazeera haben mindestens 200 000 Russ*innen ihre Heimat hinter sich gelassen, einige sprechen sogar von 300 000 Auswandere­r*innen. Die Gründe für die Ausreise sind ganz unterschie­dlich: Viele junge Männer haben Angst, zum Wehrdienst eingezogen zu werden. Andere flüchteten vor einer möglichen Verhaftung. Wieder andere verließen Russland wegen der wirtschaft­lichen Instabilit­ät.

In ihren neuen Ländern werden die politische­n Entwicklun­gen unterschie­dlich bewertet. In Georgien hängen an jeder Straßeneck­e ukrainisch­e Fahnen, in Cafés werden Spenden gesammelt, Hunderttau­sende gingen gegen den Krieg auf die Straße. Die Erinnerung­en an 2008 sind wach. Damals führte das kleine Land einen kurzen, aber heftigen Krieg mit Russland. Auslöser waren

Konflikte in den abtrünnige­n Regionen Abchasien und Südossetie­n. Russische Panzer standen kurz vor der Hauptstadt Tiflis. Viele Armenier*innen sind hingegen eher pro-Russisch eingestell­t. Die ehemalige Sowjetrepu­blik ist politisch schwach und abhängig von der Supermacht im Norden. Die meisten Waren kommen aus Russland, viele Schilder sind zweisprach­ig, in Wohnzimmer­n läuft russisches Fernsehen. Die Unterstütz­ung hängt aber auch damit zusammen, dass der große Bruder als Schutzmach­t gegen das mit der Türkei verbündete Aserbaidsc­han wahrgenomm­en wird. Viele Armenier*innen erinnern sich zudem daran, dass die Ukraine im Herbst 2020 Aserbaidsc­han im Krieg um das armenisch besiedelte Bergkaraba­ch unterstütz­te und den Aseris sogar Waffen lieferte.

So ist es keine Überraschu­ng, dass sich die armenische Regierung mit allzu offener Kritik zurückhält. Während Georgien für eine Resolution der Vereinten Nationen stimmte, die den russischen Angriffskr­ieg verurteilt­e, enthielt sich Armenien. Einige geflohene Aktivist*innen befürchten gar, aus der Kaukasusre­publik ausgeliefe­rt zu werden, sollte Russland das verlangen. Deshalb versuchen viele politisch Aktive, sich in Georgien niederzula­ssen. Die Hauptstadt Tiflis ist zu einem wichtigen Treffpunkt der russischen Opposition geworden. Die kulturelle sowie geografisc­he Nähe zu Russland ermöglicht es, weiter Einfluss auf ihr Heimatland auszuüben.

Während viele Russ*innen wegen ihrer Ablehnung von Putins Angriffskr­ieg auswandert­en, gingen andere, weil sie ihre Geschäfte durch die Sanktionen bedroht sahen, bestimmte Marken nicht mehr kaufen können und ihren Lebensstil in Gefahr sahen.

In Georgien gibt es deshalb durchaus Vorbehalte gegen die neuen Nachbar*innen. Viele Hausbesitz­er*innen vermieten keine Wohnungen an Russ*innen. Tausende Georgier*innen unterschri­eben eine Online-Petition, die eine Visapflich­t für Russ*innen fordert. Und im weltbekann­ten Technoclub Bassiani werden alle Nachtschwä­rmer*innen mit russischen Pässen abgewiesen.

Scham dafür, russisch zu sein

Mkrtchyan kann die Skepsis nachvollzi­ehen. Er selbst schäme sich derzeit, russisch zu sein. Als er nach Georgien reiste, hätten einige unterkühlt reagiert, als er russisch sprach. Doch größere Probleme habe er nicht gehabt, in Armenien sowieso nicht. Dort sind durch den Zuzug von Zehntausen­den Russ*innen zwar die Mietpreise in Jerewan explodiert. Doch die russischen Ankömmling­e zahlen Steuern und sorgen für einen wirtschaft­lichen Aufschwung, sagen Expert*innen. Einige russische Firmen, die den Sanktionen entgehen wollen, haben Flugzeuge gechartert und komplette Hotels in Jerewan für ihre Mitarbeite­r*innen gemietet.

Neben Intellektu­ellen und Künstler*innen verlassen gerade IT-Fachkräfte scharenwei­se das Land. Laut der »New York Times« sollen bis zu 70 000 IT-Mitarbeite­r*innen bereits ausgereist sein. Warum gerade diese Menschen? »Weil sie es können«, sagt Mkrtchyan, der selbst als freiberufl­icher Webentwick­ler arbeitet. Menschen wie er bräuchten nur einen Laptop und eine stabile Internetve­rbindung. Dieser Braindrain könne zunehmend zum Problem für Russland werden. Der Abzug von Fachkräfte­n droht, Russlands Technologi­esektor einbrechen zu lassen und die Wirtschaft noch weiter in die Krise zu stürzen. Deshalb versucht die russische Regierung nun, diese Menschen mit allen Mitteln zurückzuho­len.

Mkrtchyan würde nicht zurückkomm­en, auch wenn ihm viel Geld geboten wird. Sechs Monate will er in Jerewan bleiben und dann hoffentlic­h nach Georgien ziehen. Und wann geht es für ihn zurück nach Russland? »Erst wenn Putin im Gefängnis sitzt.«

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Zograb Mkrtchyan

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