Punkte für die Tugend
Digitale Innovation: Bologna will nun ein Sozialkreditsystem testen
Bologna war einmal bekannt für die Universität, die als die älteste Europas gilt, für die endlosen Arkadengänge, die vor der italienischen Mittagshitze schützen, für die starke Linke – weswegen sie noch immer »die Rote« genannt wird, wobei eine andere Überlieferung diesen Namen auf die Farbe der dortigen Lehmziegel zurückführt –, und nicht zuletzt für das Ragù alla Bolognese, original nur mit Karotten und Sellerie und mehrere Stunden eingekocht. Doch inzwischen verbindet man weit Unerfreulicheres mit dem Namen der norditalienischen Metropole. Es begann mit dem sogenannten Bologna-Prozess, mit dem ein europaweit einheitlicher Markt der akademischen Bildung hergestellt wurde. Bachelor, Master, ECTS sind die bekannten Schlagworte dieser tiefgreifenden Austreibung des Geistes aus den Hochschulen. Wo alles vergleichbar sein soll, verliert das Einzelne seine Besonderheit.
Nun schickt sich Bologna abermals an, Vorreiter einer unheilvollen Zeittendenz zu sein. Die Stadtregierung kündigte die Einführung eines Sozialkreditsystems unter dem Namen »Smart Citizen Wallet« an – ein Pilotprojekt im Rahmen eines Plans zur digitalen Innovation. Wer sich vorbildlich verhält, so der Bürgermeister, könne Punkte sammeln: »Im Mittelpunkt steht der tugendhafte Bürger, der zum Beispiel den Abfall gut trennt oder keine Energie verschwendet, der die öffentlichen Verkehrsmittel nutzt und keine Bußgelder kassiert oder der mit der Bologna Welcome Card aktiv ist. Zu diesen Menschen sagt die Stadtverwaltung: ›Wir geben Ihnen eine Punktzahl‹, als Teil eines Belohnungssystems mit wirtschaftlichen Vorteilen für die einzelnen Nutzer.« Auch sollen mit Hilfe digitaler Technologie die Bewegungen der Bürger erfasst werden, gar eine digitale Kopie der ganzen Stadt erstellt werden.
Was bisher nur als fernöstliches Gräuelmärchen bekannt war, rückt nun ganz nah? Wohl kaum – die These vom kulturellen Unterschied ist auch in Hinblick auf die vergangenen zwei Corona-Jahre kaum zu halten. Denn womit in China im Namen des Parteiauftrags in aller Öffentlichkeit experimentiert wird, das ist im freien Westen von Geheimdiensten und Privatfirmen längst schon besorgt worden, bevor offiziell der Staat ins Spiel kam. So hat der geheimnisumrankte Konzern Palantir aus der Überwachung durch »Künstliche Intelligenz« ein Geschäft gemacht, auf das auch die deutsche Polizei zurückgreift. Die entsprechende Software heißt bezeichnenderweise Gotham, wie der düstere Moloch aus Verbrechen und Korruption im Batman-Universum. Ein lustige Pointe am Rande ist, dass der Palantir-Gründer – ein Philosoph! – sich an Jürgen Habermas’ »Theorie des kommunikativen Handelns« schulte. Führt ein Weg von der Diskursethik zur Überwachung, in der sozial angepasstes Handeln als Tugend firmiert?
Nimmt man den Philosophen Jacques Rancière beim Wort, dass in der Moderne nicht das Volk seine Repräsentanten, sondern umgekehrt diese eine bestimmte Vorstellung vom Volk hervorbringen, erweist sich der durchs Sozialkreditsystem anvisierte »tugendhafte Bürger« als interessante Fiktion. Politische Legitimität dürfte dann nur noch beanspruchen, wer sich als tugendhaft zu präsentieren weiß, der Rest gilt dann nicht mehr als zur Politik befähigt und entsprechend als auszuschließen. So scheint bereits heute der einzig legitime Rücktrittsgrund im politischen Geschäft die persönliche Verfehlung zu sein, nicht aber die Folgen der betriebenen Politik. Was ist schon die Verarmung großer Teile der Bevölkerung gegen ein unpassendes Lachen oder unsensible Urlaubsplanung? Wo die Tugend mit dem Smartphone Punkte sammelt wie noch vor kurzem Pokémon-Viecher, haben wir es nicht allein mit einem technischen, sondern vor allem sozialen Phänomen zu tun: Politik nähert sich dem dystopischen Ideal der völligen kybernetischen Steuerung. Jakob Hayner