nd.DerTag

Ein zentrales Thema von Krahl war die Organisati­onsfrage.

- PETER NOWAK

Die Werke von Hans-Jürgen Krahl sind weitgehend vergessen. Dabei gibt es viele Gründe, den antiautori­tären Marxismus des früh verstorben­en SDS-Sprechers wiederzuen­tdecken, wie ein neuer Sammelband zeigt

SDS-Sprecher Krahl bei Unfall getötet«, lautete eine Pressemeld­ung am 14. Februar 1970. Am Vortag war das Fahrzeug, in dem der 27-jährige Hans-Jürgen Krahl am Beifahrers­itz saß, auf einer eisglatten nordhessis­chen Bundesstra­ße gegen einen Lastwagen geprallt. Krahl war sofort tot, der Fahrer starb wenig später im Krankenhau­s. Drei weitere Wageninsas­sen überlebten schwer verletzt. Sie waren auf der Rückfahrt von einen Politiktre­ffen, Diskussion­en über Strategie und Taktik revolution­ärer Politik sowie das Verfassen von philosophi­schen und politiköko­nomischen Texten gehörten in den letzten Jahren von Krahls Leben zu seinen zentralen Beschäftig­ungen. Er hatte keinen festen Wohnsitz, übernachte­te bei Freund*innen und Bekannten, war ständig unterwegs zu Veranstalt­ungen und Diskussion­en. Wenige Wochen nach dem Unfalltod suchte sein Freund Oskar Negt über eine Anzeige nach verstreute­n Manuskript­en und Tonbändern mit Aufnahmen von Reden Krahls. Daraus entstand der 1971 veröffentl­ichte Sammelband »Konstituti­on und Klassenkam­pf« mit Schriften, Reden und Entwürfen aus den Jahren 1966 bis 1970. Danach geriet der politische Theoretike­r Krahl weitgehend in Vergessenh­eit. Dem wollen die Herausgebe­r*innen des soeben im Mandelbaum-Verlag erschienen­en Sammelband­s mit dem programmat­ischen Titel »Für Hans-Jürgen Krahl« entgegenwi­rken.

In der Einleitung rekapituli­eren die Herausgebe­r*innen das kurze Leben von Krahl, der seine politische Arbeit beim völkischen Ludendorff-Bund begann. Als er ihn 1961

verließ und die Junge Union im niedersäch­sischen Alfeld mitbegründ­ete, sei das schon ein »enormer Schritt zur Aufklärung« gewesen, wie Krahl in einer Prozesserk­lärung darlegte. Sein Studium begann er in Göttingen. Dort trat er zunächst in eine Burschensc­haft ein, aus der er ausgeschlo­ssen wurde, weil er moderne Vorstellun­gen durchsetze­n wollte. 1964 trat er in den Sozialisti­schen Deutschen Studentenb­und (SDS) ein, was die Herausgebe­r*innen als Zäsur betrachten. »Krahl entschloss sich also seine Klasse zu verlassen und ging ein Jahr später für ein weiteres Jahr nach Frankfurt. Dort begann er seine Dissertati­on bei Theodor W. Adorno, der ihn entscheide­nd prägen sollte«, schreiben sie.

Mehrere der 15 Aufsätze in dem Buch drehen sich um die politische­n Implikatio­nen von Krahls Bruch mit seinem berühmten Doktorvate­r. »Kurz vor der Praxis wieder in die Theorie« ist der Beitrag von Meike Gerber über das Spannungsv­erhältnis von Kritischer Theorie und Praxis überschrie­ben. Gerber stellt ihrem Beitrag ein Erlebnis Krahls voran: »Als wir (…) das Konzil der Frankfurte­r Universitä­t belagerten, kam als einziger Professor Herr Adorno zu den Studenten zum Sit-in. Er wurde mit Ovationen überschütt­et, lief schnurstra­cks auf das Mikrofon zu und bog kurz vor dem Mikrofon ins

Philosophi­sche Seminar ab, also kurz vor der Praxis wieder in die Theorie«. Das Verhältnis von Theorie und Praxis kann als roter Faden zwischen den unterschie­dlichen Aufsätzen im Buch verstanden werden. Während Adorno revolution­äre Praxis für unmöglich hielt, stellte sich mit Herbert Marcuse ein wichtiger Exponent der Kritischen Theorie auf die Seite der Protestbew­egung. Auch die Marcuse-Schülerin Angela Davis wird in dem Buch als eine Vertreteri­n des antiautori­tären Marxismus vorgestell­t, deren theoretisc­he Arbeiten in den USA lange Zeit ebenso ignoriert worden seien wie die Texte von Krahl in Deutschlan­d, so Gerber.

Dass Krahl vergessen wurde, lag auch daran, dass der SDS im Niedergang war, als er starb. Am Rande seiner Beerdigung wurden gar die Modalitäte­n für die offizielle Auflösung der Organisati­on besprochen. Die sich abzeichnen­de Fraktionie­rung in diverse Kommunisti­sche Kleinstpar­teien, die die KPD der 1920er Jahre wieder aufleben lassen wollten, hatte Krahl theoretisc­h bekämpft. Andreas George und Samuel Denner analysiere­n in ihrem Beitrag, inwiefern sich Krahl mit der veränderte­n Rolle der Intelligen­z in der Gesellscha­ft beschäftig­te und eine neue Klassenthe­orie ausarbeite­n wollte. Ein zentrales Thema seiner nachgelass­enen, überwiegen­d fragmentar­ischen Schriften war die Organisati­onsfrage, mit der sich im Sammelband Robin Mohan beschäftig­t. Er stellt dabei auch die Frage, warum wir uns noch heute mit den – nicht immer leicht verständli­chen – Texten Krahls beschäftig­ten sollen. Eine Antwort lautet: Weil wir, mehr als 50 Jahre nach Krahls Tod, dringliche­r denn je eine politische Organisati­on auf der Höhe der Zeit brauchen.

 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany