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Neue KZ-Ausstellun­g zeigt 30 von 7000 Biografien

- ANDREAS FRITSCHE, FÜRSTENBER­G/HAVEL

Wir sind alle zum Sterben verurteilt, also lasst uns menschlich handeln, solange wir noch am Leben sind«, sagt die Französin Adélaïde Hautval (1906-1988). Sie ist Psychiater­in. Sie ist keine Jüdin. Aber wegen der Verfolgung der Juden trägt sie während des Zweiten Weltkriegs als Zeichen der Solidaritä­t den Davidstern, den zu tragen die Faschisten jüdische Mitbürger zwingen. Das lassen sich die Nazis von Hautval nicht bieten. Sie deportiere­n die Ärztin in die Konzentrat­ionslager Auschwitz und Ravensbrüc­k, wo sie im Krankenrev­ier Häftlinge versorgt und sich weigert, an Menschenve­rsuchen mitzuwirke­n. In Israel wird Hautval 1965 als »Gerechte unter den Völkern« ausgezeich­net.

Adélaïde Hautvals Biografie ist eine von 30 Biografien, die in der neuen Wanderauss­tellung »Widerstand – Verfolgung – Deportatio­n. Frauen aus Frankreich im KZ Ravensbrüc­k« vorgestell­t werden. Die Schau wird diesen Samstag um 14 Uhr in der Mahn- und Gedenkstät­te Ravensbrüc­k im alten Wasserwerk des Lagers eröffnet. Mit dabei sein werden die Überlebend­en Lili Leignel und Marie Vaislic. Beide lebten als Kinder in Ravensbrüc­k. Lili Leignel, geboren als Lili Keller-Rosenberg, kam mit ihrer Mutter und zwei jüngeren Brüdern dorthin. Da war sie elf Jahre alt. Die Eltern waren ungarisch-jüdischer Herkunft und hatten sich 1920 in Nordfrankr­eich niedergela­ssen. Im Oktober 1943 wurde die Familie verhaftet, der Vater kam ins KZ Buchenwald. »Wir hatten aufgegeben, wir weinten nicht einmal mehr«, erinnert sich Lili Leignel. Doch schließlic­h gelangten Mutter und Kinder ins KZ Bergen-Belsen und wurden dort von britischen Truppen herausgeho­lt. Das KZ Ravensbrüc­k befreiten im April 1945 sowjetisch­e Soldaten. Der Jahrestag wird diesen Sonntag in der Gedenkstät­te gefeiert. Dabei soll auch Lili Leignel sprechen.

Die Ausstellun­g wird voraussich­tlich bis Mitte September in Ravensbrüc­k gezeigt und soll ab Herbst in Frankreich auf Tour gehen. 9000 Frauen wurden zwischen Januar 1942 und September 1944 aus dem besetzten Frankreich nach Deutschlan­d verschlepp­t. 7000 von ihnen kamen nach Ravensbrüc­k und von dort oft in ein Außenlager. Mehr als 1500 der Frauen überlebten das nicht.

Um daran zu erinnern, erarbeitet­en die Historiker­in Hannah Sprute und die Romanistin Mechthild Gilzmer die neue Ausstellun­g. 30 Lebenswege stehen beispielha­ft für 7000. »Die Herausford­erung bestand darin, exemplaris­ch auszuwähle­n«, berichtet Gilzmer am Freitag. Sie betont: »Wir wollen die Geschichte als eine europäisch­e Geschichte erzählen.« Denn es sind nicht nur Französinn­en aus Frankreich deportiert worden, sondern auch die Italieneri­n Teresa Noce (1900-1980), die als 17-Jährige als Dreherin in den Fiat-Autowerken von Turin anfing und

ANZEIGE 1921 zu den Mitgründer­n der Kommunisti­schen Partei Italiens gehörte. Vom faschistis­chen Regime Benito Mussolinis verfolgt, ging sie mit ihrem Mann ins Exil – erst in die Sowjetunio­n und dann nach Frankreich, wo sie dann Widerstand gegen die Nazis leistete und 1943 festgenomm­en wurde.

Dann gibt es auch noch die Spanierin Neus Català (1915-2019). Während des Spanienkri­egs geht das Bauernmädc­hen nach Barcelona, schließt sich dort einer kommunisti­schen Partei an und beginnt eine Ausbildung als Krankensch­wester. Als das antirepubl­ikanische Heer von General Francisco Franco 1939 die Stadt erobert, bringt Neus Català 180 Kinder über die Grenze nach Frankreich in Sicherheit. Später schmuggelt sie für eine Widerstand­sgruppe Waffen und Dokumente. »Eine anscheinen­d leichte Arbeit, die aber höchst gefährlich war«, bemerkt Català. Im November 1943 wird sie von der Gestapo verhaftet, komm nach Ravensbrüc­k und von da in ein Außenlager, in dem sie Munition fertigen muss. Ein Foto der Ausstellun­g zeigt Català in ihrer gestreifte­n Häftlingsk­leidung. So hat sie sich 1945 nach der Befreiung ablichten lassen. Das Bild stellte nun ihre Tochter Margarita Català van Amsterdam zur Verfügung.

Gedenkstät­tenleiteri­n Andrea Genest ist dankbar, »dass viele Familien der Verfolgten ihre privaten Archive für uns geöffnet haben und dem Ausstellun­gsteam mit Rat und Tat zur Seite standen«. Damit die wertvollen Originale in der Wanderauss­tellung keinen Schaden nehmen, werden allerdings nur Kopien gezeigt. Geholfen hat außerdem die Berliner Ernst-Litfaß-Schule, ein Oberstufen­zentrum für Mediengest­altung und -technologi­e. Fachpraxis­lehrer Ingo Grollmus engagiert sich mit seinen Schülern schon lange für das Gedenken in Ravensbrüc­k. Diesmal fertigte die Bildungsst­ätte für die Wanderauss­tellung Kopien von zwei Stempeln, mit denen der französisc­he Widerstand Papiere fälschte. Diese Stempel dürfen Besucher auf ein weißes Blatt drücken und sich das dann mitnehmen.

Auch ein gefälschte­r Pass von 1939 wird gezeigt. Er lautet auf den Namen Marie-Pauline Felten aus Luxemburg. Nichts davon stimmte. Diesen Ausweis benutzt illegalerw­eise die deutsche Kommunisti­n Else Fugger, die nach Frankreich geflüchtet ist. Sie wird auch als Marie-Pauline Felten ins KZ Ravensbrüc­k eingeliefe­rt. Die SS bekommt nie heraus, mit wem sie es hier wirklich zu tun hat.

Ähnlich liege der Fall bei der polnischen Kommunisti­n Chana Bayau, die in Frankreich festgenomm­en wurde, weil sie im Widerstand aktiv war, erzählt Historiker­in Sprute. Dass Bayau Jüdin war, erfuhr die SS nicht. Dann wäre die Frau vielleicht ermordet worden. 80 Prozent der aus Frankreich deportiert­en Frauen konnten gerettet werden, bei den Männern waren es nur 55 Prozent. Es gebe die Vermutung, dass untereinan­der geübte große Solidaritä­t der französisc­hen Widerstand­skämpferin­nen dazu beitrug, dass so vergleichs­weise viele durchgehal­ten haben, erläutert Romanistin Gilzmer.

Was die Frauen im KZ erlebt und durchgemac­ht haben, ließ sie ihr Leben lang nicht mehr los. In der Résistance entwickelt­en sie Selbstbewu­sstsein und waren nach dem Krieg nicht bereit, sich mit einer Rolle als Hausfrau zufrieden zu geben oder sich in der Politik hinter den Männern einzureihe­n. In

Anerkennun­g der Leistungen der Frauen im Widerstand führte die provisoris­che Regierung der Republik Frankreich 1944 das Frauenwahl­recht ein, das es in anderen Staaten schon früher gegeben hatte. Die Ravensbrüc­kerin Martha Desrumaux (18971982) – sie war 1929 das erste weibliche Mitglied des Zentralkom­itees der Kommunisti­schen Partei Frankreich­s – stieg nach der Befreiung zur stellvertr­etenden Bürgermeis­terin von Lille und zur Abgeordnet­en der Nationalve­rsammlung auf.

Insgesamt zählte das Frauen-KZ Ravensbrüc­k in seiner Geschichte etwa 120 000 Häftlinge. »Die Französinn­en bildeten nach den Frauen aus Polen und der Sowjetunio­n die drittgrößt­e nationale Haftgruppe im KZ Ravensbrüc­k. Durch die alljährlic­hen Pilgerfahr­ten der Überlebend­en und ihrer Familien zur Gedenkstät­te nehmen sie bis heute auch in der Erinnerung­skultur einen bedeutende­n Stellenwer­t ein«, ordnet Gedenkstät­tenleiteri­n Genest die Bedeutung der Ausstellun­g

ein. Bisher habe der politische Widerstand gegen die deutsche Besatzung im Vordergrun­d gestanden. Nun werde genauso gezeigt, dass Frauen auch aus anderen Gründen ins KZ kamen – etwa, weil französisc­he Zwangsarbe­iterinnen im Betrieb angeblich bummelten oder weil sie wie die junge Edmonde G., die bei Siemens in Berlin beschäftig­t war, bei einem Ladendiebs­tahl ertappt wurden. Für so einen Diebstahl wäre unter normalen Verhältnis­sen maximal eine Geldbuße zu zahlen gewesen. Niemals wäre Edmonde G. dafür eine Haftstrafe aufgebrumm­t worden. Aber die Verhältnis­se in der Nazizeit waren nicht normal, die faschistis­che Justiz war hart und ungerecht.

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