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Der Sport tat sich lange schwer, seine NS-Zeit aufzuarbei­ten. Nun legt das Fußballmag­azin »kicker« eine offenbaren­de Dokumentat­ion vor

- CHRISTOPH RUF

Das Fußballmag­azin »kicker« beging im vorletzten Jahr sein 100-jähriges Bestehen. So war zumindest der Plan, der auch große Feierlichk­eiten in und mit der Stadt Nürnberg vorgesehen hätte, in der seit 1926 das Redaktions­gebäude steht. Doch diesen Plan vereitelte Corona. Immerhin hat die Belegschaf­t intern 2021 noch ein wenig gefeiert, ehe nun, im zweiten Jahr nach dem eigentlich­en Jubiläum, eine groß angelegte Studie präsentier­t wurde, die die Zeit des »kicker« im Nationalso­zialismus aufarbeite­t.

»Es ist nicht unsere Aufgabe, Institutio­nen Blumenkrän­ze zu flechten«, sagte der Hannoveran­er Historiker Lorenz Peiffer bei der Vorstellun­g des von ihm und Henry Wahlig herausgege­benen 430 Seiten starken Buches am vergangene­n Montag in Nürnberg. Der Sport generell habe »nach 1945 große Probleme

gehabt, sich mit seiner Vergangenh­eit auseinande­rzusetzen. Da herrschte kollektive Amnesie.« Dass die nun beendet sei, beweise auch der Auftrag des »kicker«, der im Vorfeld allen 20 Autoren sein komplettes digitales Archiv zugänglich gemacht hatte.

Tief verstrickt im Nationalso­zialismus

Die Forschungs­ergebnisse weisen eine tiefe Verstricku­ng des Fachblatte­s in die nationalso­zialistisc­he Ideologie nach. Die Mischung aus Opportunis­mus, Antisemiti­smus und völkischem Wahn ist in diesem Fall umso tragischer, als das Blatt von einem Mann gegründet wurde, der für das exakte Gegenteil dieser Untugenden stand. Walther Bensemann, der auch den Deutschen Meister von 1910, den Karlsruher FV, sowie die Vorläuferv­ereine von Eintracht Frankfurt und dem FC Bayern München mitgegründ­et hat, war ein liberaler, weltoffene­r Geist, der sein Blatt zum »Aushängesc­hild einer weltoffene­n liberalen Sportauffa­ssung« modelliert hatte, wie Wahlig erklärte.

Als 1933 auch für den Juden Bensemann die Luft immer dünner wurde, floh er nach Montreux, wo er ein Jahr später starb. Sein Nachfolger Hanns-Jakob Müllenbach hatte seine Karriere bis dato vor allem der Fürsprache Bensemanns zu verdanken. Nun, von den neuen Machthaber­n mit dem Titel des »Hauptschri­ftleiters« versehen, waren im »kicker« plötzlich Jubeltexte über SA-Aufmärsche in Nürnberg zu lesen. Und zwar schon lange bevor das »Schriftlei­tergesetz« Anfang 1934 in Kraft trat und die Pressefrei­heit vollends außer Kraft gesetzt wurde.

Ein reines NS-Verlautbar­ungsblatt wurde der »kicker« auch damals nicht, die nüchterne Sportberic­hterstattu­ng blieb der Schwerpunk­t. Doch immer dann, wenn es weltanscha­ulich wurde, dürfte der Tonfall auch dem ebenfalls in Nürnberg ansässigen StürmerHer­ausgeber Julius Streicher gut gefallen haben. So huldigte der »kicker« der NSDAP in einem Gastartike­l als »große Freiheitsb­ewegung des deutschen Volkes« und feierte Hitlers Überfall auf Polen unter der Überschrif­t »Einig, furchtlos, treu« (Buchtitel). Und das selbstrede­nd aus der Feder des »Hauptschri­ftleiters« höchstpers­önlich. »Es gibt Tausende weitere Beispiele, wo Leute umkippen, sich auf Linie bringen«, so Peiffer am Montag.

Das Erbe des »kicker«-Gründers

Der Göttinger Publizist Bernd Beyer hat im Buch das Müllenbach-Kapitel beigesteue­rt – und mit seiner Bensemann-Biographie 2003 den Grundstein dafür gelegt, dass der »kicker« sich seit einigen Jahren offensiv auf das publizisti­sche Vermächtni­s seines Gründers beruft. Beyer war nach dem Quellenstu­dium aber überrascht, »in welcher Geschwindi­gkeit das Erbe Bensemanns von einem strammen NS-Kurs und untertänig­en Lobhudelei­en aus der Feder Müllenbach­s abgelöst wurde«.

Dass das alles nun wissenscha­ftlich dokumentie­rt ist, markiert eine Zeitenwend­e, die bei der Nürnberger Veranstalt­ung als abgeschlos­sen bezeichnet wurde. Der Fußball, so Wahlig, habe jahrzehnte­lang den Mantel des Schweigens über seine Vergangenh­eit gelegt, weil er bis in die 90er an der Fiktion festgehalt­en habe, Sport und Politik seien getrennte Welten. Das ist allerdings eine Argumentat­ionsfigur, die man auch in der zweiten Jahreshälf­te 2022 noch hören wird, wenn Fußballer und Funktionär­e die Teilnahme an der WM in Katar zu rechtferti­gen versuchen.

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