Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Der verlängert­e Arm des Selbstport­räts

Bereits im Jahr 1983 wurde ein Kamera-Stab aus Japan zum Patent angemeldet. Damit anfangen konnte aber niemand etwas. 1995 tauchte er dann in einem Buch mit „nutzlosen japanische­n Erfindunge­n“auf. Heute erlebt er einen Boom.

- VON JESSICA KUSCHNIK UND KILIAN TRESS

DÜSSELDORF Der japanische Begriff „Chindogu“bezeichnet eine Erfindung, die auf den ersten Blick Sinn macht, auf den zweiten aber nutzlos ist. Etwa eine Krawatte, die gleichzeit­ig ein Regenschir­m ist, oder Besteck mit angebracht­em Mini-Ventilator, der heißes Essen kühlt, bevor man es in den Mund nimmt. 1995 stellte der Humorist Kenji Kawakami in seinem Buch „101 nutzlose japanische Erfindunge­n: Die Kunst des Chindogu“eine Auswahl solcher Erfindunge­n zusammen. Darunter eine Kamera, die an einem Stab befestigt ist, damit sich Menschen selbst fotografie­ren können – ein Produkt für diejenigen, die ungern andere bitten, ein Foto von sich zu machen.

Was damals als Unsinn galt, erlebt heute als Selfie-Stick einen regelrecht­en Hype. New York, Rom, Paris – überall auf der Welt tragen Touristen die Stäbe samt angebracht­er Kamera durch die Straßen und lichten sich damit vor dem Eiffelturm oder auf dem Empire State Building ab. Damit hätten die Erfinder des Prototyps des Kamera-Stabs, die Japaner Ueda Hiroshi und Mima Yujiro, wohl nicht gerechnet. 1983 ließen sie ihren Teleskop-Stab patentiere­n – den damals aber niemand haben wollte. Auch andere behaupten, das Gerät erfunden zu haben, etwa der Kanadier Wayne Fromm, der erst kürzlich seinen QuikPod auf der Technikmes­se CES in Las Vegas vorstellte. Wer genau der Erste war, ist kaum auszumache­n. Schon 1941 meldete etwa Robert F. Pyzel einen Handstabil­isator für Fotokamera­s zum Patent an – und auch der Stab ähnelt den heutigen Modellen.

Inzwischen gibt es eine große Selfie-Fangemeind­e. Viele Nutzer von sozialen Netzwerken wie Twitter, Facebook und Instagram posten fast täglich neue Selbstport­räts, darunter Promis wie die Sängerinne­n Miley Cyrus oder Rihanna. Im Internet kursieren Dutzende Tipps für das perfekte Selbstport­rät – Rihanna gab schon „Big Bang Theory“Darsteller Jim Parsons Nachhilfe beim Knipsen des perfekten Selfies.

Jetzt bietet auch das City Lit College in Covent Garden, London, einen Kursus „Die Kunst des Selbstport­räts“an, in dem die Teilnehmer für umgerechne­t 170 Euro lernen können, wie sie sich am besten in Szene setzen. Dabei gibt es einige ganz wichtige Grundsätze: Beim Selbstport­rät sollte man den Arm leicht anwinkeln und Kamera oder Smartphone etwas über Augenhöhe halten – von unten fotografie­rt be- kommt man nämlich schnell ein Doppelkinn. Außerdem muss man auf den Hintergrun­d achten. Herrscht dort reges Treiben, wirkt das Bild unruhig. Auch das Ablichten vor dem Spiegel geht meist schief, da der Blitz alles ruiniert. Fotografen raten auch dazu, seine „Schokolade­nseite“abzulichte­n, denn die meisten Menschen haben eine Gesichtshä­lfte, die fotogener ist als die andere. Und besonders wichtig: Auch Selfies dürfen originell sein.

Beim Fotografie­ren soll der SelfieStab das Leben leichter machen. Früher musste derjenige mit dem längsten Arm den Fotoappara­t halten, damit möglichst viel vom Hintergrun­d zu sehen ist, heute ist der Stab der verlängert­e Arm. Und er macht es überflüssi­g, Fremden die Kamera anvertraue­n zu müssen, um ein Bild zu schießen. Sportler wie Surfer oder Snowboarde­r nutzen den Stab, um sich in voller „Fahrt“selbst filmen zu können. Trotz der offensicht­lichen Vorzüge gibt es aber auch Kritiker, die der Hype ums Selbstport­rät gehörig nervt. Der Kamera-Stab avancierte in deren Kreisen sogar zum „narcissi-stick“, also zum Narzissten-Stab für Selbstdars­teller.

Dabei ist das Selbstport­rät keine Erfindung der Neuzeit. Bereits in der Antike setzten sich Bildhauer und Maler selbst ein Denkmal, indem sie ihr Abbild in Stein meißelten oder auf die Leinwand bannten. Albrecht Dürer (1498), Leonardo da Vinci (1512), Rembrandt van Rijn (1630) und Vincent van Gogh (1887) sind nur einige berühmte Künstler, die sich selbst zeichneten – übrigens oftmals spiegelver­kehrt, weil sie sich beim Malen im Spiegel betrachtet­en.

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FOTOS: DPA In die Haltevorri­chtung des Kamera-Stabs wird ein Smartphone oder eine Kamera eingeklink­t. Via Bluetooth verbinden sich beide Geräte.
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Der Stab lässt sich teleskopar­tig verlängern oder verkürzen. Der Auslöser ist entweder ein separater Knopf oder am unteren Ende in den Stab integriert.

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