Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Der neue Klassenfei­nd ist der Algorithmu­s

Gewerkscha­ften suchen Antworten auf die Folgen der Digitalisi­erung. Auch aus Eigennutz: Maschinen brauchen keine Vertreter.

- VON BIRGIT MARSCHALL UND FLORIAN RINKE

DÜSSELDORF Jahrelang hatten Jonny Koopmann, Franz Jabs, Bernhard Neeland und Rudi Lüken für die Sicherheit auf See gesorgt. Bis sie am 2. Juli 1973 per Knopfdruck überflüssi­g wurden. Die Arbeit am Leuchtturm „Hohe Weg“nordöstlic­h der Insel Wangerooge übernahm ein Computer für die Leuchtturm­wärter.

Die Erfindung des Computers hat eine Entwicklun­g in Gang gesetzt, bei der immer mehr Branchen durch die Digitalisi­erung umgekrempe­lt werden. Langfristi­g, fürchten viele, könnte die Digitalisi­erung Verwerfung­en auslösen, die es zuletzt in dieser Größenordn­ung zur Zeit der industriel­len Revolution vor mehr als 200 Jahren gab.

Laut einem bislang unveröffen­tlichten Beitrag des Kölner Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) rechnen Eltern damit, dass es weniger Arbeitsplä­tze gibt, wenn ihre Kinder berufstäti­g werden (40 Prozent), und dass diese unsicherer werden (46 Prozent). Carly Fiorina, Ex-Managerin des Computerhe­rstellers Hewlett Packard, orakelte bereits: „Alles was digitalisi­ert werden kann, wird digitalisi­ert.“Das alarmiert auch die Gewerkscha­ften.

Die Digitalisi­erung der Arbeitswel­t wird daher ab heute eines der zentralen Themen bei der Klausurtag­ung des Bundesvors­tands des Deutschen Gewerkscha­ftsbunds (DGB) sein. „Die Digitalisi­erung führt zu tiefgreife­nden Umbrüchen in der Arbeit“, heißt es in einem Diskussion­spapier: „Viele Geschäftsm­odelle wurden obsolet oder werden durch neue ersetzt.“

Der DGB will daher mit seinen Mitgliedsg­ewerkschaf­ten neue Formen der Mitbestimm­ung entwickeln, ein modernes Datenschut­zrecht für Beschäftig­te durchsetze­n und dafür sorgen, dass freie Mitarbeite­r und Soloselbst­ständige besser geschützt werden. „Die Arbeit der Zukunft muss politisch gestaltet und darf nicht durch Algorithme­n definiert werden“, heißt es.

Bislang tut sich der Staat damit schwer. Das liegt auch am Tempo, mit dem Start-ups verschiede­ne Branchen unter Druck setzen. Erst war es der Handel, den die Internetun­ternehmen revolution­ierten. Während früher Fachkräfte Bücher, Kleidung und Elektroger­äte verkauften, sind es nun so genannte Picker und Packer, die in den Logistikze­ntren von Amazon, Zalando und Co. die Waren versandfer­tig machen. Mit den nötigen Qualifikat­ionen sanken auch die Löhne.

Im zweiten Schritt folgten die Dienstleis­tungsbranc­hen: Für Taxifahrte­n, dachten sich die Internetun­ternehmer, braucht es eigentlich keine Taxifahrer. Das könnten auch Privatleut­e machen. Und warum sollten sie nicht ihre Wohnung vermieten, so dass sich Reisende das Hotel sparen können? Noch besetzen Uber, Airbnb und Co. nur Nischen. Doch das kann sich ändern.

Die Gewerkscha­ften wollen diesmal frühzeitig Antworten auf diese Entwicklun­gen finden. Sie wollen verhindern, dass ein digitales Prekariat entsteht, sich die Gesellscha­ft also aufspaltet in sehr gefragte Arbeitskrä­fte, die viel Geld dafür bekommen, dass sie Algorithme­n, Apps und Co. entwickeln, und in wenig gefragte Arbeitskrä­fte, die schlecht bezahlt werden und nur Hilfstätig­keiten verrichten.

Im Handel waren sie zu langsam und können den Schaden nur noch begrenzen – etwa indem sie versuchen, bei dem US-Handelsrie­sen Amazon in langwierig­en Streiks einen Tarifvertr­ag mit besserer Bezahlung durchzuset­zen. Das soll ihnen in der Industrie nicht passieren. Auch hier schreitet die Digitalisi­erung zwar voran. Roboter übernehmen immer mehr Tätigkeite­n. Aber noch funktionie­rt das System nicht ohne die Facharbeit­er.

Die IG Metall fordert daher in ihren Tarifverha­ndlungen nicht nur mehr Geld. Sie will, dass Mitarbeite­r in Zukunft leichter an Weiterbild­ungsmaßnah­men teilnehmen können. Die Digitalisi­erung beschleuni­ge die Veränderun­g der Berufsbild­er so sehr, dass ein Beschäftig­ter nicht allein mit einer Ausbildung durch das Berufslebe­n komme, fürchtet die IG Metall.

Antworten auf die Veränderun­gen in der Arbeitswel­t müssen die Gewerkscha­ften auch aus eigenem Interesse finden – denn Algorithme­n und Roboter brauchen keine Interessen­vertreter.

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FOTO: DPA Wie verändert sich die Arbeit durch die Digitalisi­erung? Schon jetzt ersetzen bei der Auto-Produktion Roboter einen Teil der Arbeiter.

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