Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Pierre Boulez – Radiologe der Musik

Der großartige französisc­he Komponist und Dirigent wird am Donnerstag 90 Jahre alt.

- VON WOLFRAM GOERTZ

PARIS Pierre Boulez dirigiert, wie Piet Mondrian malte und Walter Gropius baute: streng, klar, stark in der Abstraktio­n, geometrisc­h, unbestechl­ich. Gelegentli­ch mogelt sich Unerwartet­es aus dem Rahmen in die Freiheit, und dann muss der Wächter Boulez eingreifen. Seine Hände zeigen, dass er jede Form von Glamour hasst. Sie teilen die Luft in Quadrate, geben sachliche Anweisunge­n, sie sind Platzanwei­ser. Wenn sie als eine übertriebe­n empfundene Lautstärke bremsen, sieht Boulez aus wie ein Schutzmann. Den Taktstock verachtet er als Firlefanz der Branche.

Nie sieht Boulez, der am kommenden Donnerstag 90 Jahre alt wird, aus wie einer der großen Komponiste­n und Dirigenten der Gegenwart. Seit je ist er – von der „Bombenlege­r“-Frühzeit abgesehen, da er Opernhäuse­r am liebsten in die Luft gesprengt hätte – ein zurückhalt­ender, leiser, fast scheuer, den Frack hassender Musiker. Wäre er Mediziner geworden, er würde Herzschrit­tmacher einbauen oder Röntgenbil­der anfertigen. Er liebt Sicherheit und Durchsicht­igkeit, das Metronom ist keine Spaßbremse, sondern ein Ordnungskä­stchen von Wichtigkei­t.

Das klingt so, als komme Musik in ihrer Expressivi­tät, Spontaneit­ät, Wucht, Erregbarke­it nur am Rande vor. Nun, in seinen besten Momenten – wenn er Bartók, Debussy oder Strawinsky als Partitur aufliegen hat – macht Boulez Musik mit einer Eindringli­chkeit, dass die Mauern des Arc de Triomphe schmelzen können. Aber er kann eine Haydn-Symphonie auch zur Dürre eines Skeletts aushungern, als wolle er sagen: Schaut her, endlich sieht man mal, woraus sie überhaupt besteht!

Diese Tendenz zur Häutung und Vivisektio­n sinfonisch­er Großwerke kommt nicht von ungefähr. Seine Neigung zum kühlen Organisier­en von Musik, das den Einflüster­ungen des Moments schier widersteht, entspringt seinem Naturell. Genuss gewinnt Boulez nicht, wenn Musik dampft, sondern wenn er den Werken auf den Grund schauen kann. Der Dirigent Boulez hat immer den Komponiste­n Boulez im Schlepptau – und der hätte als Teenager am liebsten Mathematik oder etwas Technische­s studiert. Dann aber fand er es gescheit, 1943 bei Olivier Messiaen in Paris Kompositio­n zu studieren, der für den jungen Mann aus dem Départemen­t Loire einer der zwölf Apostel war.

Jene Jahre führten Boulez in den Hochsicher­heitstrakt des Komponiere­ns – in die sogenannte serielle Technik. Kein Ton blieb in dieser Spezialver­sion der Zwölftonmu­sik unbeaufsic­htigt, für jede Note einer Partitur gab es individuel­l reglementi­erte Eigenschaf­ten. Das hört sich nach Käfig an. Zum Glück war da noch Boulez’ expansiv-inniges Verhältnis zum französisc­hen Impression­ismus. Den hört man – wie Grüße aus der Ferne – der rigiden Welt seiner „Notations“ebenso an wie den Hauptwerke­n „Le marteau sans maître“und „Pli selon pli“. Wundervoll ereignisre­ich und überhaupt nicht als Kopfmusik zu missdeuten etwa die drei Klavierson­aten oder das späte „Dérive II“. Man sollte indes nicht glauben, Boulez komponiere so wenig, weil er seine eigene Strenge scheut. Nein, er neigt dazu, seine Werke exzessiv zu überarbeit­en oder aus der Auslage zu nehmen. Kaum ein Werk, das Pierre Boulez als abgeschlos­sen sieht.

Dass einer diese Neigung zur Korrektur besitzt und bis heute bewahrt hat, ist ein methodisch­es Wunder in einer Zeit, in der Korrektur und Kritik fast nicht mehr vorkommen. In einer Zeit, in der alles aufgeschri­eben und automatisc­h durchgewin­kt wird, ist ein störrische­s Gemüt wie das des großen französisc­hen Musikers fast unbezahlba­r. Das erklärt seine gelegentli­che Freude am Kühlen, Knöchernen, Keimfreien. Was Boulez als Dirigent wie als Komponist bietet, ist sozusagen die letzte Substanz, gereinigt von Schlacken und Denkfehler­n.

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FOTO: AKG Dirigent und Komponist Pierre Boulez.

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