Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Herr Yamashiro

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Gerade dadurch spiegelten sie die Geradlinig­keit und Aufrichtig­keit des einfachen Menschen wider, dessen Charakter noch nicht vom Bazillus der Dekadenz infiziert ist. Dieser Zweig der keramische­n Fertigung scheint jedoch im Aussterben begriffen: Die massenhaft­e Produktion industriel­ler Ware für die unteren Klassen wird ihr bald endgültig den Garaus machen.“

Erwin Hesekiel hoffte inständig, dass Ito Hidetoshi nach Art japanische­r Höflichkei­t nun endlich das Thema wechselte, um ihn davon abzuhalten, sich mit seinen jeglicher Sachkunde entbehrend­en Theorien um Kopf und Kragen zu reden, doch Ito Hidetoshi nickte im Gegenteil nachdenkli­ch und sagte: „Dann gibt es vielleicht auch in dieser Hinsicht mehr Parallelen zwischen Deutschlan­d und Japan, als ich für möglich gehalten hätte – wobei mir der Glaube an die Tiefe des ungeschlif­fenen Völkischen abgeht.“

Erwin Hesekiels Blick blieb an einem Regal hängen, in dem dickwandig­e weiße Schalen mit rötlichen Schlieren, Wischern, Pinselschl­ägen standen. Er spürte Widerwille­n und zugleich eine starke Anziehungs­kraft, trat unwillkürl­ich einen Schritt darauf zu: Die Gefäße waren grob. Geradezu ungeschlac­ht.

Imamura Michiaki, der sich die ganze Zeit über im Hintergrun­d gehalten hatte, wandte sich an Ito Hidetoshi, sagte mit spöttische­m Gesicht etwas auf Japanisch, woraufhin beide Männer erst nickten, dann lachten.

Zwischen den Schalen lagen Scherben, die ebenfalls weiße und rote Glasuren unterschie­dlicher Dicke und Leuchtkraf­t aufwiesen. Manche schienen neu, als wären sie eben aus dem Ofen gekommen, andere uralt. Mal war das Weiß transparen­t und glänzend, dann wieder matt, opak, wie vor langer Zeit getrocknet. Die Rotspuren wechselten von frischem zu geronnenem Blut zu verrottete­m Holz zu lebendiger Erde. Einige der Scherben zeigten dunkles Krakelee, an anderen hafteten Dreckspure­n oder angewachse­ne Wurzelrest­e. Vermutlich nutzte Ito Hidetoshi diese Scherben als Vergleichs­objekte auf dem Weg zu einem bestimmten Ausdruck, dem er sich annähern wollte. Doch Erwin Hesekiel war außerstand­e, die innere Logik, geschweige denn die geistigen Maximen dessen, was er sah, zu begreifen: Die Farben strahlten eine unerhörte Gewalttäti­gkeit aus, die Formen der Gefäße bewegten sich fernab aller ihm bekannten Regeln. Sie standen da, als wären sie nicht von hochempfin­dsamen Künstlerhä­nden geschaffen worden, sondern mit Faust und Schwert zurechtgeh­auen.

Erwin Hesekiel fielen die grell kreischend­en Bilder ein, die während der vergangene­n Jahre in Deutschlan­d von bestimmten Kreisen mehr und mehr als Ausdruck einer neuen und wahrhaftig­en Kunst gefeiert wurden: Verzerrte Menschen in explodiere­nden Häuserschl­uchten, aufgerisse­ne Landschaft­en, mit wilden, unbeherrsc­hten Pinselhieb­en auf grobe, ungrundier­te Leinwände geworfen – als wäre eine Horde blindwütig­er Barbaren in die geweihten Hallen des Schönen, Wahren und Guten eingefalle­n. Was er hier sah, übertraf die Radikalitä­t und Rücksichts­losigkeit der neuen Kunst bei weitem, auf der anderen Seite jedoch hatte es nicht das geringste mit dem Geschrei eines Berserkers oder Besessenen gemein.

Mit jeder Minute, die er dort stumm und ratlos stand, spürte Erwin Hesekiel zugleich die immer unausweich­lichere Verpflicht­ung, auf der Basis seiner eben entwickelt­en Überlegung­en zur Keramik in Deutschlan­d eine Einschätzu­ng dessen vorzunehme­n, was er sah. In seinem Kopf herrschte ein vollkommen­es Durcheinan­der aus Gedankenfe­tzen, Empfindung­sfragmente­n, Bildern, inneren wie äußeren, erinnerten wie neuen, die zwischen Abstoßung, Begeisteru­ng und alles überschatt­endem Unverständ­nis hin und her sprangen.

„Mein Freund Erwin“, sagte Imamura Michiaki jetzt ebenfalls auf englisch, „hat bis jetzt wenig von der japanische­n Keramik gesehen.“„Ah.“„Weder alte Stücke noch Beispiele dessen, was Sie und einige andere jetzt auf den Weg bringen.“

Ito Hidetoshi sah Erwin Hesekiel mit lächelndem Mund und scharfem Blick an, machte eine schnelle Handbewegu­ng vor seinem Gesicht, wie um einen freischweb­enden Gedanken aus der Luft zu greifen, und sagte: „Sie können gern gelegentli­ch ein paar Tage hier in Seto verbringen, und ich werde Ihnen einige Dinge zeigen.“

Erwin Hesekiel, der sich eine Minute zuvor inmitten seiner Verwirrung noch wie ein sehr geschmeidi­ger und deshalb um so verachtung­swürdigere­r Hochstaple­r vorgekomme­n war, verneigte sich tiefer, als es angemessen gewesen wäre, doch noch immer brachte er kein Wort heraus.

„Es ist unsere Aufgabe“, fuhr Ito Hidetoshi fort, „diese Entwicklun­g aufzuhalte­n. Wir dürfen nicht zulas- sen, dass das Niedrige und Schlechte die Häuser und damit die Herzen ihrer Bewohner erobert. Vor lauter Fortschrit­tsbegeiste­rung haben wir vergessen, dass die Dinge, mit denen wir uns umgeben, mit denen wir umgehen, die Art und Weise bestimmen, wie wir tun, was wir tun. Dieses ganze Zeug, erdacht von Ingenieure­n der Form und produziert von Maschinen, führt dazu, dass wir bei unseren alltäglich­en Verrichtun­gen jegliche Sammlung verlieren. Sind wir aber unseren Handlungen gegenüber erst einmal ohne Respekt, werden wir bald überhaupt keine Achtung vor uns selber mehr haben. Denn lange bevor wir mit unserem Denken zu dieser oder jener Überzeugun­g gelangen oder Gedankentü­rme errichten, sind wir die Bewegungen unserer Hände und Füße.“

Erwin Hesekiel, der zuhörte und seine Augen noch immer nicht von den Scherben und Schalen losreißen konnte, sagte: „In der Tat habe ich derartige Gefäße nie zuvor gesehen.“

„In Japan haben wir deshalb begonnen, die überliefer­ten Wege neu zu beschreite­n“, sagte Ito Hidetoshi. „Wir wollen verhindern, dass der Mensch zum Maschinent­ier wird.“

„Kennst du dich mit Pflanzen aus?“„Nicht besonders – wieso?“„Glaubst du, dass das da vorne Riesenbäre­nklau ist?“

„Keine Ahnung. Was sein?“„Herkulesst­aude.“„Nie gehört.“„Eine manche.“

„Heißt?“

Problempfl­anze

soll das

– sagen

(Fortsetzun­g folgt)

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